VORGESTELLT ABER SELBST NOCH NICHT GELESEN: JUNG & JUNG, FRÜHJAHR 2014

Noch kamen wir nicht dazu, all die Bücher zu lesen, die gerade um uns herum erscheinen. Trotzdem wollen wir Euch in den nächsten Tagen einige vorstellen, von denen wir denken, sie sind gut, interessant und es wert, dass wir sie alle lesen. Wir verlassen uns dabei ganz auf unseren Instinkt und die Verlagsprosa. Heute: Jung & Jung

 


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Lorenz Langenegger 
Bei 30 Grad im Schatten

Noch einmal versucht der Held dieser einfühlsamen Erzählung, seinem alltäglichen
Dasein zu entkommen: Er bricht auf, lässt sein Leben hinter sich (glaubt er) und kommt bis ans Ende der Welt.

Fünf Jahre ist es her, dass Jakob Walter den Ausbruch aus seinem Leben wagen wollte. Zwei Tage später war er wieder zurück, und auch wenn er noch immer nicht wusste, was er eigentlich in Bern verloren hatte, er hatte immerhin eine sichere Anstellung: in der Steuerverwaltung. Und da war ja auch noch Edith, seine Frau. Die ihn nun nach zehn Jahren verlassen hat. Damit er nicht alleine zurückbleibt, geht er selbst auch, packt seinen Rucksack, wirft die Schlüssel in den Postkasten und – und weiter? Er macht sich auf den Weg, aber was sucht er? Haben es die anderen denn gefunden: Jonas zum Beispiel, der seine Arbeitslosigkeit zum Beruf macht, oder Natalia, die ein Hotel erbt, in dem es nur eine Toilette gibt? Aber hey, er hat immerhin einen Weggefährten – und er hat den mitfühlendsten, verständigsten und aufmerksamsten Begleiter wohl in Lorenz Langenegger selbst, der seinen Helden am Ende in Griechenland stranden lässt. Dort weiß man freilich erst recht nicht, ob man jetzt am Ende angekommen ist oder wieder am Anfang steht, wo noch einmal alles möglich ist.

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Konrad Bayer 
der kopf des vitus bering

Einer der abenteuerlichsten Prosatexte der gesamten österreichischen Literatur.

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Günther Eisenhuber

Vitus Bering, Entdecker dänischer Herkunft, Marineoffizier in russischen Diensten, bricht Mitte des 18. Jahrhunderts auf, das östlichste Ende des Zarenreichs zu erkunden, um zu beweisen, dass Asien und Amerika nicht zusammenhängen. Auf seiner letzten Expeditionsfahrt entdeckt er Alaska, strandet auf dem durch Stürme abgeschnittenen Rückweg nach Kamtschatka an einer unbewohnten Insel, wo er beim Versuch, über den Winter zu kommen, mit Teilen seiner Mannschaft an Skorbut stirbt. Soweit die Legende, das biografische Substrat einer Geschichte, aus deren Versatzstücken und Motiven Konrad Bayer mit den Mitteln der Textmontage und unter Verarbeitung einer Vielzahl unterschiedlichster Quellen ein Sprach kunstwerk schuf, das zu den wichtigsten Hervorbringungen der österreichischen Avantgarde nach 1945 zählt. Vitus Bering dient dabei nur als Vehikel, ist Standort für eine literarisch abenteuerliche Erkundung in den entlegenen Bereichen extremer Wahrnehmung von Welt und Ich, weit jenseits der Grenzen von Verständigung, wo das Ganze, um es mit Konrad Bayer zu sagen, gegen Ende auch sprachlich vereist.

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Karl Kraus 
Die letzten Tage der Menschheit

Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog

»Wer ihn gehört habe, der wolle nie mehr ins Theater gehen, das Theater sei langweilig verglichen mit ihm, er allein sei ein ganzes Theater, aber besser, und dieses Weltwunder, dieses Ungeheuer, dieses Genie trug den höchst gewöhnlichen Namen Karl Kraus.« Elias Canetti

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franz Schuh

Einem „Marstheater“ hat Karl Kraus seine Weltkriegstragödie zugedacht – weil sie mit ihren über 200 Szenen nicht nur im Umfang über jede menschliche Vorstellung hinausgeht. Die Tragödie findet hier nicht nur auf dem Theater statt, sie ist eine Katastrophe von apokalyptischen Dimensionen, der Untergang der Welt in einer „Extraausgabee“. Und so endet der Krieg, gegen den Karl Kraus mit satirischem Furor und moralischer Beschämung Krieg geführt hat, hier nicht mit einem Frieden: „Dieser nicht.“  Denn: „Er hat sich nicht an der Oberfläche des Lebens abgespielt, sondern im Leben selbst gewütet. Die Front ist ins Hinterland hineingewachsen. Sie wird dort bleiben.“ Und Karl Kraus spürt ihrem Verlauf nach: in der Presse wie im Militärkommando, im Café wie am Schlachtfeld, im Wurstelprater wie vorm Kriegsgericht und vor allem in dem von Chauvinismus und Gewissenlosigkeit verseuchten Denken und Sprechen seiner zeitgenossen. Aus Erfundenem wie Gefundenem gestaltet Karl Kraus ein großes Panorama des Schreckens, den tragischen Karneval einer Menschheit im Vernichtungsrausch: ein literarisches Fanal, Mahnmal und Monument.

Franz Schuh, geboren 1947, Essayist und Kritiker, studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik in Wien, wo er auch lebt. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Österreichischer Kunstpreis für Literatur 2011. Zuletzt erschien: »Der Krückenkaktus« (2011).

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Martin R. Dean 
Falsches Quartett

Die Schule als Spielwiese oder Schlachtfeld der Gefühle, wo das Leben Lehrern und Schülern zeigt, dass es Grenzen gibt, die man nicht unbeschädigt überschreitet.

Martin R. Dean hat einen klaren Blick, gnadenlos und liebevoll zugleich, für seine Figuren, die darunter – und das ist seine große Kunst – zu Menschen werden. Er erzählt eine Geschichte, in der sich jeder am anderen festklammert, je mehr er sich verlorenzugehen droht.
Lucas Brenner ist Deutschlehrer an einem Gymnasium in der Schweiz. Anders als in der Ehe mit Lisa begegnet er in der Schule den Enttäuschungen und der Routine des Alltags mit Leidenschaft – für die Literatur. Im Fall der klugen und rätselhaften und labilen Nadia, die dafür empfänglich ist, ist es vielleicht mehr als das? Zumindest hat Lisa einen Verdacht, sie ist aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt, nachdem sie ihre Anstellung als Bildredakteurin bei einer Lokalzeitung verliert. Auch Deniz, ein aus Deutschland zugezogener Schüler mit türkischen Wurzeln, der an Schlafkrankheit leidet, fühlt sich zu Nadia hingezogen. Lisa erfindet sich indessen als Porträtfotografin neu und entfernt sich weiter von Lucas. Oder ist es umgekehrt? Als sie Deniz als Fotomodell engagiert, ist das falsche Quartett komplett: Der Reigen schließt sich.

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Angelika Reitzer
Wir Erben

Zwei Frauen, zwei Familien aus zwei sehr verschiedenen Welten werden uns hier mit großer Sensibilität und Menschenkenntnis nahegebracht.

Mariannes Leben ist vererbt. Sie übernimmt den Betrieb ihrer Großmutter, eine Baumschule, noch bevor diese stirbt und Marianne mit all dem zurücklässt, was hier, in dem großen Haus in der österreichischen Provinz, verwurzelt ist: eine weit verzweigte Familie, ihre Geschichten, ihre Vergangenheit, das, was kommt. Der Radius von Mariannes Leben ist klein, es besteht aus viel Alltag und viel Arbeit, und selbst die bestürzendsten Ereignisse geschehen mit der Selbstverständlichkeit, mit der die Jahreszeiten wechseln. Siri, die Freundin aus dem Land, das einmal die DDR war, fängt dagegen immer wieder neu an. Sie ist mit ihren Eltern in den Westen geflüchtet, Monate bevor die Mauer gefallen und die Welt auf einmal in allen Himmelsrichtungen unüberschaubar groß geworden ist. Aber wo ist darin ihr Platz, ein Anknüpfungspunkt für ihr Leben? Unsentimental im Ton, mit leuchtender Klarheit im Blick für die Details, poetisch und suggestiv in ihrer sprachlichen Präzision erzählt Angelika Reitzer diese Geschichte von zwei Frauen, deren Freundschaft zufällig scheint. Und doch erkennen sie einander in ihren Sehnsüchten, berühren sich in dem, was ihnen fehlt.