ERSTE BÜCHER: PROSA- UND LYRIKDEBÜTS HERBST 2014, LINUS WESTHEUSER

In diesem Herbst erscheinen viele spannende Prosa- und Lyrikdebüts. Einige von ihnen stellen wir in den kommenden Wochen vor. Den Autoren haben wir ein paar Fragen zur Literatur und Person gestellt.

Heute: Linus Westheuser
„Es geht mir mit den Gedichten nicht um die Wirklichkeit an sich, noch sollen sie nur in einem Hirn oder einem Text stattfinden. Sie nehmen ihren Ausgang von den Teilen der Wirklichkeit, die zu schnell ihre Gestalten wechseln, die mir, das heißt uns, zu nahe stehen, als dass sie eine begriffliche Form annehmen könnten – oder wir darüber sprechen wollten. Ein Vogel im Flug: Ich versuche ihm beizukommen, indem ich seine reale Bewegung durch eine Bewegung des Textes ersetze. Ich muss das nicht tun. Es bleibt bloß jenseits von Erkenntnis und Handeln noch Sprache übrig. Das Flügelflattern wird als Wort synchron, im Satz beginnt es wieder zu flattern (wir sagen: Oh guck mal). Würde man Flattern und ‚Flattern‘ gegeneinander ausspielen, wäre das Spiel vorbei.“

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Erste Zeile/Vers (des Buches)?

dieses campari orange soll lebenslang bei mir stehen

Was bedeutet literarische Tradition für Sie?

Hinter der Schule in Lomé, auf der ich gerade einige Wochen verbracht habe, war ein Tisch aufgebaut, unter dem ein Mann schlief. Auf ihm lagen von der Sonne verbrannte Bücher, in Wellen geschlagene Einbände: Césaire, Senghor, Kourouma … Dazwischen auch Walt Whitmans „Leaves of Grass“. Mit diesem Buch saß ich später am Strand, es nieselte ein bisschen, aus riesigen Boxen dröhnte so etwas wie RnB, alle paar Minuten kam ein Taschentuch- oder Zigarettenverkäufer vorbei und neben mir sprachen gerade gewonnene Freundinnen von Schwulen in Nigeria. Ich las:

There was never any more inception than there is now,
Nor any more youth or age than there is now,
And will never be any more perfection than there is now,
Nor any more heaven or hell than there is now.

Ist Lyrik essentiell?

Seltsame Frage. Soll das heißen, dass wir ohne sie nicht leben können? Dass sie irgendwie schon enthalten ist im Wesen der Welt? Dann wäre die Antwort natürlich Nein. Aber das gilt auch für Demokratie oder Himbeerjoghurt oder romantische Liebe. Die Frage ist so eine für Dichter, die auf irgendeiner Piazza ein Eis schlecken und uns erklären, was der Kern von Europa ist.
Empirisch kann man beobachten, dass im Alter von 13 bis 17 fast alle ab und zu irgendeine Art von Lyrik brauchen, und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass das eine Phase von großem Ausdrucksverlangen und eher instabiler Identität ist. Ein Großteil der Leute, die auch nach der Pubertät damit weitermachen, vereinen dann ausgeprägte Freakigkeit mit einer eher verstohlenen gymnasialen Haltung: bibliophile Underdogs, zu streberhaft für die Subkultur und zu weird für den Mainstream. Viele wundervolle Menschen. Ihre Essenzialität könnte vielleicht darin bestehen, die Retter dessen zu sein, was an Bildung schön ist, und was in jeder Generation von neuem droht, von der Langeweile der Kulturinstitutionen und sinnentleertem Hipstertrash erstickt zu werden …

Was soll man nach der Lektüre (Ihres Buches) machen?

Ich glaube, wer die Verbindung von Erleben und Handeln will, sollte sie nicht in der Lyrik suchen. Das Handeln verändert die Welt. Die Kunst (wie wir sie kennen) baut zwischen beiden einen Abstand ein, von dem aus man Dinge sehen kann, die man im Fluss des Handelns übersehen muss. Sie büßt im Gegenzug aber den unmittelbaren Zugriff auf die Welt ein. Deshalb sind die Fragen des Gedichts nicht die Fragen des Lebens. Das Problem in der Lyrik ist das weiße Blatt: Dass alles möglich ist, dass die Notwendigkeit erst im zweiten Schritt einsetzt, nämlich wenn auf seltsame Weise schon etwas gelungen ist. Und die Schreibenden pressen alles an Notwendigkeit heraus, um diesem Problem zu entgehen: Die Treue gegenüber dem wirklich Erlebten, das wahre Gefühl, die politische Absicht, die traditionelle Form, der Unterschied zum bereits Geschriebenen – alles Weisen, Notwendigkeit in einen Prozess wiedereinzuführen, der uns mit der Freiheit von Notwendigkeit konfrontiert. Warum die Mühe? Ich glaube der Grund ist, dass wir im Alltagsleben überall nur in Notwendigkeit stecken und uns deshalb manchmal sehnen nach einem offeneren Horizont, einer größeren Vielfältigkeit oder Seltsamkeit der Dinge. In solchen Situationen kann Lyrik helfen. Noch mehr als die meiste Prosa entfernt sie sich von der Ordnung der Dinge, mit der wir uns stillschweigend einverstanden erklären, sobald wir zu handeln beginnen. So ist sie ein Paradies von Eigensinn und Versponnenheit, Verzettelung und einer Sehnsucht nach komischen Gesten. Aber deshalb kommt es nicht so sehr darauf an, mit welchem Gedanken ich das Buch am Ende wieder weglege, sondern dass ich, während ich gelesen habe, über diese Frage nicht nachdenken musste. Lyrik kappt die Verbindung von Erleben und Handeln. Das macht sie auch so unbefriedigend für politische Absichten, in denen es genau um diese Verbindung geht. Jeder sinnvolle politische Text ist auf die Frage hin geschrieben: Was tun? Diese Frage ist aus der Lyrik verbannt und es bräuchte viel mehr als Gedichte, um sie wiedereinzuführen. Wer sie sich stellt, sollte wohl nicht Lyrik lesen, sondern eben Lenin.

 

Linus Westheuser, geboren 1989 in Berlin, ist Mitglied und Mitgründer des Berliner Lyrikkollektivs G13. Seine Gedichte erschienen in Magazinen, darunter BELLA triste, Belletristik, poet, transom journal, Maintenant Journal for Contemporary Dada Poetry and Art, und Anthologien, etwa „40% Paradies. Gedichte des Lyrikkollektivs G13“, Luxbooks 2012 und „Georg Heym. Ich bin von dem grauen Elend zerfressen. Gedichte und Erwiderungen“, Lyrikedition 2000 2012. Er ist Koautor des Kollektivgedichts „das war absicht“, SuKuLTuR 2013, und war für seine gemeinsam mit Tristan Marquardt verfassten Texte Finalist des 20. Open Mike. Linus Westheuser lebt in Berlin und studiert Soziologie. „oh schwerkraft“ ist sein erster Einzelband.