Astrid Sozio: »Was nicht Fenster ist, ist Wand«

Als hätte sie geahnt, dass sie heute, zum 25-jähigen Mauerfalljubiläum, beim open mike antreten würde, präsentiert Astrid Sozio ein DDR-Flüchtlingsfamilien-Drama. Alternierend zwischen der Gegenwart und der Erinnerung eines namenlosen Er, werden die Geschichten zweier Leben aufgerollt, die kaum Schnittstellen haben, durch Schuld jedoch untrennbar miteinander verflochten sind.

Er sitzt im Auto, steigt nicht aus und erinnert sich an Jana, die damals von ihrer Mutter über die Mauer geworfen wurde und überlebte, Jana mit den dicken Lippen und den behaarten Männerhänden. Drei Begegnungen reichen aus, um die Nachwirkungen der DDR-Flucht und den seelischen Verfall dieser Jana-Figur aus der Perspektive des Er zu erleben, vom Kind aus dem „Assi-(aka Flüchtlings)heim“ über die Studentin mit Zuverdienst (»Ich bin Tänzerin. Gogo.«). Angeekelt ist Er von Jana und ihrer zahnlosen Mutter, dem „grauen Geist“ aus der politischen Gefangenschaft, wird hineingenötigt in die Treffen. Aber da ist diese Komplizenschaft (»Weißt du noch, wie ich gesprungen bin?«). Und dann: »Kannst du das Fenster aufmachen?«
»Natürlich.«
Er stand auf.
»Nicht auf Kippe, ganz.«

Janas Kind, das sie aus dem geöffneten Fenster geworfen hat, hat nicht überlebt. Deswegen wagt er nicht aus dem Auto zu steigen und Jana im Gefängnis zu besuchen. „Er fragt sich, welche Welt Jana sich dort vorgestellt hat. Und ob sich Wunden und Wünsche ebenso vererben wie Hände und Lippen.“ Während der geschriebene Text bisweilen stark konstruiert wirkt, holt Astrid Sozio mit ihrem Vortrag noch einmal etwas heraus aus dieser letztlich zwar schlüssigen, jedoch wenig mitreißenden Geschichte.

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Leseprobe: Astrid Sozio; Was nicht Fenster ist, ist Wand

Er stellt den Motor ab, löst den Gurt und steigt nicht aus. Er schaut auf seine Hände und denkt an ihre. Denkt an den ersten
Tag, wie der Lehrer sie vor sich her in die Klasse schob: »Das ist Jana.«
Wie sie ihre Hüfte einknickte und ihren Busen und ihre dicken Lippen vorschob und wie alle glotzten, Jungen wie Mädchen.
Selbst der Lehrer. Niemand sah, dass sie im Grunde hässlich war mit diesen dicken Lippen und den Männerhänden.
Wie alt waren sie da? Vierte Klasse.
Er sitzt in seinem Auto und zählt die Jahre an seinen Fingern ab: eingeschult mit sechs, sieben, acht, neun. Neun Jahre.
Jana trug eine unförmige Jeans und ein geripptes, lachsfarbenes Oberteil, das eng war wie ein nasser Badeanzug. Es war ein Badeanzug, das sah er, als sie sich später im Rohbau auszog. In seiner Erinnerung ist das alles am selben Tag passiert, morgens kam sie in die Klasse, nachmittags zog sie ihn hinter sich her in den Rohbau auf der Kuhweide. Knöpfte ihre Hose auf, zog die lachsfarbenen Träger herunter und dann den Rest des Badeanzugs und hockte sich in eine Ecke. Um die Angst rauszuscheißen, wie sie sagte.
Wie sie da hockte! Die Knie mit den Händen umschlungen, die Brüste an die Knie und die dicken Lippen aufeinandergepresst – er sitzt in seinem Auto und lacht. Bricht ab und sieht ein anderes Bild: Jana sitzt, wieder bekleidet, auf dem rohen Fenstersims, die Beine baumeln nach außen, er hört ihre Fersen gegen die Wand tippern. Sie schaut über die Schulter zu ihm: »Jetzt nich blinzeln!« Und dann – als hätte er doch geblinzelt – ist sie fort. Weggeblinzelt wie ein Staubkorn. An ein Geräusch erinnert er sich nicht. Auch nicht daran, ob er erst zum Fenster sprang oder gleich hinausrannte. An die Schuld aber, an die erinnert er sich gut. Als hätte er sie gestoßen.