Aus der Textwerkstatt von Philipp Enders

Windflüchter (AT)

Auszug

 

FRI – DO – LIN. Jetzt suchen sie ihn. Doch er rührt sich nicht vom Fleck. Er kennt das. Sie dürfen ihn nicht zu früh finden, erst wenn ihr Zorn über sein Verschwinden weg ist, gewichen der Angst, er könnte vielleicht nicht mehr auftauchen. FRI – DO – LIN. Er wird bei seinem zweiten Namen gerufen, genau wie Samuel, wie Ulrike. Der Rufname muss mindestens drei Silben haben, sagt die Mutter. Zwei- oder gar einsilbige Namen haben keine Melodie und lassen sich nicht gut rufen. Fridolin friert ein wenig. Trotz der hoch am Himmel stehenden Sonne stellen sich die sommerhellen Härchen an seinem Unterarm auf. Dicht vor seinem Auge sehen sie wie Grashalme aus, von denen jeder auf einem kleinen Hügel steht. Donata war gegen den Ausflug gewesen. »Un pezzettino di terra sacro. Perché bisogna prender anche questo?« Trotzdem sind sie gefahren. Günter hatte ihnen gezeigt, wie man hinkommt, vielleicht wollte er Donata eins auswischen.

 

Fridolin mag Donata, auch wenn er sie nicht versteht. Er versteht sie immerhin besser als andere Erwachsene, sogar solche, die richtig Deutsch können. Sie ist zierlicher, dunkler und rauer als die Mutter. Ständig ist sie im Kampf mit irgendwas oder irgendwem, oft mit Günter. Sie trägt weite Röcke und macht komische Zeichnungen. »Radierungen«, sagt der Vater, obwohl das mit Radieren gar nichts zu tun hat. Es sind immer Tiere auf den Radierungen, meist groß wie Hochhäuser. Manchmal Menschen, ameisenklein. Die Tiere fahren Karussell oder kaufen sich ein Eis, und die Menschen werden fast von ihnen zerquetscht.

Donata findet es nicht gut, wenn Günter Fleisch kocht. »Für die Gäste«, sagt der. Doch Fridolin kann sehen, dass Günter es einfach mag, in kurzen Hosen und Flip-Flops, mit nacktem Oberkörper in der Küche zu stehen und Fleisch zu kochen. Abends füllt er sich immer Wein ins Glas, aus dem bauchigen Kanister. Dann bekommt er ganz glasige Augen, und Donata sieht traurig aus. Fridolin überlegt, ob er aufhören soll, Fleisch zu essen. Vielleicht würde das Donata ein bisschen glücklicher machen. »Vegetarier«, sagt der Vater, »Nährstoffmangel«, die Mutter.

Das Haus, in dem Günter und Donata leben, ist so groß, dass sie zwei Zimmer an Urlauber vermieten können, wie jetzt an Fridolin und seine Familie. »Warum lassen wir niemanden bei uns in Köln wohnen?« fragt Fridolin. »Schatz, wir brauchen das Geld nicht. Nicht so dringend,« erklärt die Mutter. Das Haus sieht aus wie aus vielen kleineren Häusern zusammengesteckt. Seine goldgelb gestrichenen Mauern sind ganz fleckig vom Salz und verschachteln sich nach oben hin immer und immer weiter. So gibt es nicht nur ein Dach sondern sieben. Das Haus steht direkt am Strand und ist ziemlich alt. »Vielleicht tausend Jahre«, sagt Samuel, doch weil alle Erwachsenen darüber lachen, glaubt Fridolin, dass Samuel Unrecht hat. Samuel ist ja auch noch klein.

In das eigentliche Wohnhaus kommt man nur über eine lange schmale Treppe, eine Brücke fast. Im unteren Teil des Hauses gibt es jede Menge Lagerräume, die in einen bunkerartigen, geziegelten Anbau münden. Die Ziegelmauer verläuft über die gesamte Breite des Hauses, sie ist sehr hoch und zum Meer hin abgeschrägt. Schon die kleinen Hausdächer lassen an Türme und Erker denken, die rote Mauer aber macht das Haus zu einer Festung, einem Bollwerk gegen Wasser, Wind und Seeräuber.

Wenn Fridolin rennt, braucht er nicht einmal eine halbe Minute von der Mauer bis zum Meer, aber eine ganze Minute, bis er wieder zurück ist und das silberne G abgeklatscht hat. Im Sand rennen strengt an. Das G gehört zu einem Schriftzug: »Goldrake esiste«. Jemand hat ihn mit Sprühdose an die Mauer geschrieben. »Ma Mandrake è piu forte«, ein anderer und ein dritter: »E Goku è piu bello«. Für Fridolin ist Goldrake trotzdem der wichtigste von den dreien. Er stellt ihn sich als strahlenden Kämpfer für das Gute vor, als Ritter oder Drachentöter, und wünscht sich manchmal, selbst dieser Kämpfer zu sein. Doch das erzählt er keinem.

 

Vielleicht hatte Donata einfach Recht. Vielleicht hätten sie diesen wundersamen Ort wirklich allein mit sich lassen sollen. Doch in dem goldgelben Haus mit den sieben Dächern und der roten Mauer war ihnen die Luft knapp geworden. Kann es sein, dass Donata Fridolin verflucht hat? Vorsichtig kriecht er ein Stück weiter auf der Steinplatte, bis zum Rand eines der Wasserbecken.

War es am Morgen des dritten oder des vierten Tags, als der Sturm einsetzte? Er weiß es nicht mehr. Für Fridolin verschwimmen die Tage nicht nur, wenn seine Familie und er verreisen, auch zuhause. Er bekommt die Stunden nicht zu fassen. Jeder Tag hat so viele davon und zugleich so wenige, dass er alles wiegt und nichts, zum Bersten gefüllt ist mit Bedeutung und so nichtig, dass man ihn schon am nächsten Morgen komplett vergessen hat, sich nie, nie mehr daran erinnern wird. Die Erwachsenen haben andere Regeln. Sie halten die Vergangenheit fest und planen ständig die Zukunft. Sie beherrschen die Zeit. Oder beherrscht die Zeit sie?

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