Wir müssen reden … mit Jan Böttcher

 

Für seinen jüngsten Roman Y hat Jan Böttcher im Kosovo recherchiert. Vor einem Monat war er wieder dort, auf dem Literaturfestival polip. Im Interview erzählt er von seiner Faszination für die Verschmelzung von Poesie und Politik auf dem Balkan und davon, dass er sich selbst manchmal gern von der Bürde der gesellschaftlichen Relevanz lösen würde.

Literatur und gesellschaftliche Relevanz I: Relevanz als Bürde

 

open mike blog: Vor Kurzem war in der FAZ ein Artikel von Ihnen über das Literaturfestival polip in der kosovarischen Hauptstadt Priština zu lesen. Darin schildern Sie, dass bereits am ersten Abend Poesie und Politik „unauflöslich verschmolzen“. Wie wurde diese Verschmelzung für Sie spürbar?

Jan Böttcher: Mein Gefühl auf dem Balkan ist jedes Mal, dass ausnahmslos alle Literaten aufgefordert sind, politisch Stellung zu beziehen. Zu ihrem Land, zur Lage ihrer Nation, zur Zukunft Europas. Schon in den Anmoderationen hat sich oft eine Haltung mitgeteilt. Häufig sprechen die Texte anschließend auf formal anderer Ebene aus, was die Menschen politisch denken.

open mike blog: Sie zeigten sich im Artikel besonders von den Biografien der mitwirkenden Künstler*innen beeindruckt. Wer beziehungsweise welcher Beitrag hat Sie besonders berührt und warum?

Jan Böttcher: An Rumena Buzarovska hat mich vor allem ihr Aktivismus fasziniert: Sie geht seit Jahren jede Woche auf die Straße, um gegen die neuen mazedonischen Denkmäler und andere Bausünden zu demonstrieren, die eine Geschichtsumdeutung bedeuten. Literarisch war ich sehr beeindruckt von den sinnlichen und metaphernstarken Gedichten der Albanerin Luljeta Lleshanaku. Sie beschreibt darin, wie das kommunistische Erbe Albaniens im Familienkreis weiterspukt, während es von offizieller Seite verdrängt wird. Und dann waren da noch die Initiatoren des Festivals. Sowohl Saša Ilić auf serbischer Seite als auch Jeton Neziraj auf albanischer Seite sind öffentlichen Angriffen ausgesetzt, wenn sie die Versöhnung mit einem Festival wie polip vorantreiben.

open mike blog: Nun haben natürlich die genannten Autor*innen und Künstler*innen eine Balkanidentität. Für Sie selbst war es der vierte Aufenthalt im Kosovo. Im Rahmen des Grenzgänger-Stipendiums der Robert Bosch Stiftung reisten Sie mehrfach für Recherchen zu Ihrem Roman Y in die junge Republik. Der Roman ist angesiedelt zwischen Berlin und Priština, der Mitte und dem Rand Europas. Es geht dabei vor allem um die Nachwehen des Krieges in diesem zerstörten Land und darum, wie verschiedene Menschen damit umgehen. Wie haben Sie sich dem Thema genähert? Gab es zuerst ein persönliches, zeitgeschichtliches Interesse oder die Idee einer Liebesgeschichte, für die Sie eine Folie suchten?

Jan Böttcher: Zuerst gibt es für mich so etwas wie eine Ästhetik des Gegenwartsromans. Mir ging es in den letzten beiden Büchern darum, analoge und digitale Gegenwart zu verschränken. Aber auch darum, Liebe, Familie und Beruf nicht isoliert zu betrachten, sondern als Kräfte, die in uns oft genug gegeneinander arbeiten. Zu Y: Ich habe mich zu Kriegszeiten als junger Student viel mit dem Kosovo auseinandergesetzt. 2010 habe ich die erste Einladung zum polip-Festival bekommen, als Songwriter. Dann sind zwei Prozesse in Gang gekommen: Ich habe den Ballungsraum Priština kennengelernt, der noch keine funktionierende Stadt war, weil nach dem Krieg viel illegal gebaut und der öffentliche Raum dabei vernachlässigt worden war. Aber ich habe von diesem Festivalbesuch auch den Eindruck mitgenommen, dass die Kosovaren noch nicht über den Krieg schreiben können, nicht einmal auf authentische Weise. Für mich kam es aber nicht in Frage, schreibend in einen albanischen Kopf einzusteigen und aus ihm heraus zu erzählen. Das wäre anmaßend gewesen. Meine Beschäftigung mit Computerspielen hat dann im Laufe der Jahre dafür gesorgt, dass ich eine Form fand, auch den Krieg selbst in den Roman einzuflechten.

open mike blog: Im Feuilleton fand Y für atmosphärische Dichte (Christoph Schröder, taz) sowie die Schilderung der Vater-Sohn-Beziehung (Hans-Peter Kunisch, SZ) Anerkennung. Häufig „vermissten“ die Rezensenten jedoch den (angekündigten) „großen europäischen Roman“. Wie bewerten Sie das?

Jan Böttcher: Gar nicht. Aber wenn ich etwas in den Kritiken vermisse, dann dass sie sich dem Psychogramm und der Konstitution des Erzählers zuwenden. Der Erzähler ist es, der Y zu dem macht, was es ist: im ersten Teil eher eine Liebesgeschichte, im zweiten Teil ein Reisebericht. Mir war wichtig, dass der Erzähler sich zunächst eher an einer persönlichen Geschichte interessiert zeigt, dann aber taucht er zunehmend ab in die Diskurse um Kunst, Medien und Politik. Das ist kein ungewöhnliches Verhalten, sondern selbst ein Bild unserer Zeit. „Großer europäischer Roman“ hingegen ist die Werbung des Verlages. Ich finde es immer albern, wenn sich Kritiker auf so etwas beziehen.

open mike blog: Sie sagten, die Kosovaren hätten „nicht einmal authentisch“ über den Krieg schreiben können. Y dagegen ist eine Liebesgeschichte und ein Reisebericht auf verschiedenen Ebenen, auch einer virtuellen. Nun wird in der öffentlichen Debatte von der deutschen Gegenwartsliteratur immer wieder verlangt, sie solle einen Beitrag zum aktuellen Diskurs leisten, authentisch und gesellschaftlich relevant sein. Muss Literatur das leisten? 

Jan Böttcher: Die Fiktion hat es schwer, insbesondere gegenüber Sachbuch und Biographie. Wo immer ein Ich in der Prosa auftaucht, wird die Authentizitätsfrage gestellt. Es ist den Medien eben lieber, wenn man mit dem Körper für den Text einsteht. Aber zum Stichwort Relevanz: Ich trage das durchaus auch mit mir herum, es ist zum Beispiel für das Songschreiben über die Jahre zu einer echten Bürde geworden: Ich schreibe etwas, singe es mir vor und lösche es nach einer Woche wieder, weil ich denke, dass die Welt den Song nicht braucht. Manchmal sehne ich mich nach meiner früheren Unbefangenheit, mit der es uns als Band gelang, in drei Jahren drei Alben rauszuhauen, einfach weil die Energien flossen. In einer der Buchkritiken zu Y hingegen tauchte der Begriff „Relevanzzwang“ auf, aber so, als wolle mich der Kritiker davon am liebsten erlösen. Das wird ihm nicht gelingen, jedenfalls nicht im oben skizzierten Sinne meines ästhetischen Programms. Vom Kosovo zu schreiben und von kosovarischen Künstlern, dann jedoch das politische Gespräch wegzulassen – das wäre Betrug an den Menschen dort und also auch an „ihrer“ Relevanz.

open mike blog: Ihrer Wahrnehmung des polip-Festivals folgend scheint es, als ob auf dem Balkan solche Forderungen nicht erhoben werden „müssten“, weil die Autor*innen die Relevanzfrage bereits verinnerlicht haben. Wie steht es dort um das Ich und um die Erzählinstanz?

Jan Böttcher: Es hat mit der großen Tradition des mündlichen Erzählens in diesen Ländern und der schmalen Tradition literarischer Texte zu tun, dass jemand vor die Menschen tritt und von sich spricht. In einer Festivalatmosphäre ist es immer gewinnbringend, wenn man keine Übertragungsarbeit leisten muss und den Autor gleich als Beglaubigungsinstanz vor Augen hat. Ich = Erlebnis. In der Buchform aber verliert dieser Pakt natürlich schnell an Kraft. Das polip 2010 war noch sehr geprägt vom tagebuch- und blogartigen Schreiben, ich fühlte mich an die Slams und Lesebühnen Berlins erinnert. 2016 war grundsätzlich poetischer, es kamen viele Dichter zu Wort, aber auch in der Prosa wurde wieder komplexer erzählt.

open mike blog: Obwohl ihre vorangegangenen Romane für die zeithistorische Genauigkeit und Beobachtung Anerkennung fanden, empfinden Sie Relevanz als Bürde. Was bedeutet das für das Schreiben? Man setzt sich als Autor*in schließlich nicht hin und sagt „Ich schreibe jetzt mal so richtig relevant!“.

Jan Böttcher: Nein, natürlich nicht. Ich erlebe Relevanz eher als Individualitätsstress. Am Ende des Tages heißt es nur, nichts veröffentlichen zu wollen, was auch von jemand anderen stammen könnte. Und bei Songs kann so ein Eindruck wie gesagt mal entstehen: nichts Besonderes, weg damit. Aber wäre die Bürde größer als die Lust am Schreiben, käme es ständig zu Blockaden und die kenne ich eigentlich nicht. Der Stoff bestimmt den Tonfall und formt die Erzählerinstanz(en). Was Y angeht oder auch meine lange Recherche bei meinem Roman Nachglühen – da ist man als Autor zunächst auf ganz anderen Feldern gefordert: Man ist Historiker, Soziologe, Journalist und schreibt zwischendurch bereits am Text, der natürlich immer wieder überschrieben werden muss, weil die Recherchen etwas Neues zu Tage fördern. Und in diesen Texten stellt sich dem Leser auch eher die Frage: Wo hat er das jetzt her? Stimmt das so? Hat ihm das jemand erzählt? Es dauert lang, bedarf vieler Gespräche, aber irgendwann konnte ich eine Außenwelt wie Priština im Jahre 2000 beschreiben, auch wenn ich nicht dabei gewesen bin.

open mike blog: Authentisch sein versus authentisch wirken?

Jan Böttcher: Klar, Glaubwürdigkeit ist für uns Fiktionale natürlich nicht aus der Welt. Die muss es auch im Bereich Fantasy oder Science Fiction geben, sonst hält kein Buch zusammen.

open mike blog: Das Ganze hat ja auch einen ökonomischen Hintergrund. Ein großer Teil der Umsätze auf dem Buchmarkt wird durch Bestseller oder Nebensortimente bestritten und die Verlage gehen weniger Risiken ein. Was würden Sie nachfolgenden Generationen von Autor*innen wünschen?

Jan Böttcher: Sprache ist nicht abstrakt, man erlebt sie, erinnert sie, wendet sie an. An der Sprache, in der Jungautor*innen denken und schreiben, kann erst einmal nichts falsch sein. Vielleicht ist schon das eine Ermutigung. Wenn es einen inneren Zensor geben sollte, dann gegenüber der wachsenden Emotionalisierung der Literatur, die uns in Klischees und Kitsch hinabführt. Und was den ökonomischen Erfolg angeht: Dafür gibt es einfach zu viele außerliterarische Faktoren, als dass man sich damit beschäftigen sollte, sein Schreiben in irgendeine Richtung zu verbiegen.

 

Jan Böttcher (*1973 in Lüneburg) wurde als Texter und Sänger der Band Herr Nilsson bekannt. Seit 2003 hat er vier Romane veröffentlicht. Mit Nachglühen gewann er den Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, sein Roman Das Lied vom Tun und Lassen stand an der Spitze der SWR-Bestenliste. Anfang des Jahres erschien sein neuester Roman Y.

Im Interview Literatur und gesellschaftliche Relevanz II sprechen wir mit der Autorin Kathrin Röggla.

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