Die Lektor*innen des 26. open mike | Teil II: Ulf Stolterfoht, Katja Sämann und Jan Valk

Lektor*innen, die: drei Frauen & drei Männer, deren Job es ist, Bücher zu »machen«. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verlagen oder sind selbst Verleger*innen, sie kommen aus Berlin, Zürich, Köln oder Frankfurt, und arbeiten seit Jahren mit Autor*innen an deren Manuskripten, begleiten sie auf dem Weg zum fertigen Buch, sind Ratgeber und manchmal auch Freund, immer aber »erster Leser«, und das vor allem kritisch im besten Sinne des Wortes. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels stellt dazu fest: »Die Aufgaben des Lektors sind vielfältig: er ist kritischer erster Leser und Begleiter bei der Entstehung eines Werks. Der Lektor ist Korrektiv im Schöpfungsprozess, er vertritt die Sache des Autors gegenüber der Öffentlichkeit und zugleich die Interessen des Lesers.«

Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor*innen aus renommierten Verlagen dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an die Lektor*innen weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidat*innen aus.

Die ersten drei der sechs Lektor*innen haben wir euch hier vorgestellt, nun folgen die restlichen drei.


Ulf Stolterfoht

Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?

Das lässt sich nur ganz schwer vergleichen. Die Dichterinnen und Dichter, mit denen ich Bücher bei Brueterich Press gemacht habe, wurden von mir um ein Manuskript gebeten, oder es handelte sich um Manuskripte von Leuten, die ich schon lange Zeit kenne. Davon abgesehen fürchte ich, dass ich gar nicht genau weiß, ob es so etwas wie objektive Kriterien in Bezug auf Lyrik, auf Literatur ganz allgemein, überhaupt gibt. Mir reicht es, wenn ein Gedicht Begeisterung bei mir auslöst. (Dass diese Begeisterung natürlich formale und strukturelle Ursachen hat, ist klar. Das müsste man aber am einzelnen Gedicht vorführen. Und womöglich bei jedem Gedicht auf eine andere Art.)

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Mich hat überrascht, dass mittlerweile fast durchweg auf einem ziemlich hohen Niveau geschrieben wird. Und mir ist dabei noch einmal klar geworden, dass es mir darum gar nicht geht. Im Zweifel interessiert mich ein Text, der das Risiko des Absturzes einkalkuliert (oder sogar tatsächlich abstürzt) mehr, als das, was im Kulturteil »handwerklich sauber gemacht« heißt. Trotzdem gab es in der Auswahl noch viele Texte, die man hätte auswählen können – und einige davon waren sogar handwerklich unsauber. Dies vielleicht als kleiner Trost an die Verschmähten. Bitte nächstes Jahr wieder versuchen!

Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

In der Lyrik erfolgt der Generationswechsel mittlerweile alle vier, fünf Jahre, was zu einer immer breiteren Auffächerung der Methoden und Absichten führt. Diese Vielfalt ist wirklich erstaunlich, und es erfordert einige Anstrengung, alle Entwicklungen im Auge zu behalten, sogar für Leute wie mich, die auf irgendeine Weise Teil dieses Betriebs sind. Ich bin wirklich gespannt auf die in den nächsten Jahren erscheinenden (und nicht erscheinenden) Lyrikbände.

Was wünschen Sie sich für die (deutschsprachige) Literatur der kommenden Jahre?

Dass mehr als nur ein, zwei Dutzend Leute vom Schreiben leben können – und dass dann auch ein paar Lyriker und Lyrikerinnen dazu gehören.

Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten Schriftsteller*innen?

Ich glaube, auch das hat sich sehr geändert. Aus meiner Erfahrung gibt es keinen Unterschied mehr. Was vor allem daran liegt, dass die Jüngeren wahnsinnig viel gelesen haben. Wenn ich an mich zurückdenke, mit Anfang zwanzig: oh je, oh je! Und dabei dachte ich, unheimlich belesen zu sein.

Die Lektor*innen des 26. open mike : Ulf Stolterfoht
Ulf Stolterfoht © Dirk Skiba

Ulf Stolterfoht, geboren 1963, ist Lyriker und Übersetzer. Zuletzt erschien fachsprachen XXXVII–XLV bei kookbooks. Stolterfoht ist Knappe der Lyrikknappschaft Schöneberg und Mitglied des Impro-Kollektivs Das Weibchen. Von 2014 bis 2018 betrieb er den Verlag BRUETERICH PRESS.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Kyrill Constantinides Tank
Caren Jeß
Caroline Rehner
Lara Rüter
Robert Wenzl

**

Katja Sämann

Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?

Sprache, Form, Thema, die Art, wie sich ein Autor zu seinem Stoff verhält, inwieweit ein Text nicht nur mit meinen, sondern auch mit den eingeschriebenen Erwartungen umgeht, was er sich abverlangt, ob er überrumpeln kann und überraschen – all das spielt für mich eine Rolle. Der innere Zusammenhalt, Tempo und Dramaturgie sind bei kürzeren Texten, angesichts der begrenzten Lesezeit beim open mike, vielleicht entscheidender als bei einem ganzen Roman. In gewisser Weise hat man als Lektor bei der Vorauswahl für den Wettbewerb größere Freiheiten, eine schöne Unabhängigkeit, könnte man sagen, vom programmatischen Rahmen, vom Programmprofil des eigenen Verlags oder Verlagsbereichs. Beim open mike geht es ja auch darum, möglichst unterschiedlichen neuen Stimmen ein Forum zu bieten, zu zeigen, was es alles da draußen gibt in der Welt der Schreibenden.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Dass es am Ende gar nicht leicht war, mich bei der Auswahl auf drei Texte zu beschränken.

Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Mein Gefühl ist, dass in den vergangenen Jahren viele Herangehensweisen und Formen ziemlich gleichberechtigt koexistierten: psychologischer Realismus, dystopische Versuchsanordnungen, die Hinwendung zu historischen Stoffen, um ihnen Perspektiven für die Gegenwart abzugewinnen, auch die Vermischung von literarischer Imagination, biografischem und essayistischem Schreiben in autofiktionalen Texten.

Was wünschen Sie sich für die (deutschsprachige) Literatur der kommenden Jahre?

Keine ästhetischen Vorgaben von meiner Seite, wirklich nicht. Eigentlich wünsche ich mir bloß, dass so viele Leute wie möglich wenigstens ahnen, was sie verpassen, wenn sie darauf verzichten: über ein, zwei, drei, egal wie viele hundert Seiten einer Sache, einer fremden Figur, deren Sicht- und Denkweise näherzukommen oder auch nur: sich von sich selbst ablenken und zerstreuen zu lassen, und dabei gleichzeitig ganz bei sich und ganz beim anderen zu sein.

Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten Schriftsteller*innen?

Junge Autoren sind ja nicht weniger Schriftsteller als »etablierte Autoren« – in ihrer Haltung zum eigenen Text, in ihren Erwartungen an Lektoren und Leser dürfen sie sich gar nicht unterscheiden, oder? Und die eher technischen Fragen bis zur ersten Veröffentlichung – zu Herstellung, Presse oder zum Literaturbetrieb allgemein –, beantworten wir (oder sie beantworten sich) auf dem Weg dorthin.

Die Lektor*innen des 26. open mike : Katja Sämann
Katja Sämann © privat

Katja Sämann studierte Literatur- und Kulturwissenschaft in Berlin, arbeitete als freie Übersetzerin und als Autorin für Print und Hörfunk, bevor sie 2006 zum Rowohlt Verlag ging. Dort ist sie seit 2008 Lektorin für Literatur.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Grit Krüger
Merle Müller-Knapp
Sven Pfizenmaier

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Jan Valk

Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?

Das Schöne bei der Auswahl von Wettbewerbstexten ist, dass man hier freier und auch subjektiver agieren kann als bei der beruflichen Akquise. Die Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit man sich im Verlag für die Veröffentlichung eines Projektes entschließt, sind komplex und vielfältig. Auch hier ist das persönliche »Entflammt-Sein« das Entscheidende – aber die kritische Selbstbefragung im Anschluss muss sehr strikt sein und auch vom eigenen Geschmack abstrahieren. Bei der Auswahl für den open mike kann man sich, wenn man das möchte, ganz auf seine Begeisterung konzentrieren. Seismograf spielen. Eine Luxussituation. Und begeistert haben mich Texte, die auf irgendeine Art herausragend konsequent waren. Das kann beides bedeuten: konsequent, was ihre Diszipliniertheit angeht und den Willen zur kompositorischen Geschlossenheit. Oder aber: eine konsequente Lust an der Überschreitung, am Konventionsbruch. In den Verlagen beschäftigen wir uns ja überwiegend mit Romanmanuskripten, die kurze Form steht selten zur Debatte. Ein Romanmanuskript muss aber anderen Anforderungen genügen als ein Text, der auf der kurzen Strecke funken und leuchten will. Mir gefällt die Vorstellung, dass beim open mike Texte gefeiert werden, die nicht unter dem Druck stehen, per se auch auf dem Buchmarkt – zwischen zwei Buchdeckeln – erfolgreich sein zu müssen. Deshalb war ich auf gewisse Weise froh, wenig explizit als Romanauszug gekennzeichnete Prosa in meinem Auswahlstapel zu finden.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Ich hatte, ehrlich gesagt, mehr Stromlinienförmigkeit erwartet und mehr »Well-made«-Stoffe. Und mehr Romanauszüge. Das hat sich nicht bestätigt. Vieles war angenehm sperrig und noch nicht kaputt-optimiert, was ich klar positiv meine. Ob man das als Zeichen für eine gewisse neue Verspieltheit oder Wildheit deuten kann – schwer zu sagen. Ich würde es den Autor*innen wünschen.

Welche Entwicklungen & Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Ich würde die Frage gerne modifizieren: Ich glaube, dass sich eine starke Zunahme des öffentlichen Interesses an allem beobachten lässt, was als »Authentisches« markiert ist, an Literatur, die gesellschaftliche/historische Phänomene und Krisen verhandelt – und natürlich an der Person bzw. der Biografie der Autor*innen. Außerliterarische Kriterien werden maßgeblicher, sowohl bei der Stoffwahl als auch bei der Wahrnehmung der Verfasser. Klassische Fiktionen und Texte, die sich im weitesten Sinne gesellschaftlichen Relevanzkriterien entziehen, haben es zunehmend schwerer – sofern sie nicht extrem berührend oder unterhaltsam sind. »Unsichtbare« Autor*innen ebenso. Das ist einerseits eine interessante Entwicklung, denn sie bindet die Literatur wieder stärker ein in den gesellschaftlichen Diskurs. Zugleich aber steckt darin eine klare Gefahr für jede Literatur, die sich genau dem verweigert. Um diese Literaturen werden wir uns in Zukunft noch sorgsamer kümmern müssen.

Was wünschen Sie sich für die (deutschsprachige) Literatur der kommenden Jahre?

Ich wünsche den Autor*innen Mut, Kompromisslosigkeit und Durchhaltevermögen. Denn die Bedingungen werden härter. Die gewohnten öffentlichen Verhandlungsräume für Literatur schwinden. Der Konkurrenzkampf wird heftiger. Wir werden uns alle öfter und radikaler die Frage stellen müssen, warum wir das tun, was wir tun. Und warum es für uns alternativlos ist. Gerade und zuallererst die Autor*innen selbst, denn sie sind der Glutkern des Ganzen.

Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten Schriftsteller*innen?

Ich glaube, das lässt sich pauschal nicht beantworten. Meinem Empfinden nach sind es immer einmalige Konstellationen, die im Lektoratsprozess entstehen. Man muss die Zusammenarbeit maßschneidern, geht gar nicht anders. Der einzige klare Unterschied ist, dass man gemeinsam mit Debütant*innen bestimmte Dinge zum erste Mal erleben/durchleben kann (und muss!), was irrsinnig intensiv ist: die ersten Lesungen mit eigenem Buch, die erste Besprechung, die erste Hymne oder den ersten Verriss. Das schmiedet extrem zusammen. Andererseits gibt es, und das macht den Job so reizvoll, wenig Routinen, auf die man sich verlassen kann. Auch bei etablierten Autor*innen, die schon viele Bücher geschrieben haben, ist beispielsweise das Warten auf das öffentliche Echo, die ersten Besprechungen, keine abgehangene Sache sondern hochelektrisierend.

open mike-Lektor*innen 2018: Jan Valk
Jan Valk © privat

Jan Valk ist Lektor für deutschsprachige Literatur bei Kiepenheuer & Witsch. Zuvor arbeitete er im selben Bereich für den DuMont Buchverlag. Von 2007 bis 2015 war er als Teil von Adler & Söhne Literaturproduktion in Berlin als freier Lektor, Radiojournalist und Veranstaltungsorganisator tätig.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Katharina Goetze
Christian Hödl
Yade Önder

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