Die Lektor*innen des 27. open mike | Teil 1: Günther Eisenhuber, Martina Wunderer und Urs Engeler

Lektor*innen, die: sechs Personen, deren Job es ist, Bücher zu »machen«. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verlagen oder sind selbst Verleger*innen, sie kommen aus der Schweiz, Berlin, Salzburg, München oder Frankfurt, und arbeiten seit Jahren mit Autor*innen an deren Manuskripten, begleiten sie auf dem Weg zum fertigen Buch, sind Ratgeber und manchmal auch Freund*in, immer aber »erste*r Leser*in«, und das vor allem kritisch im besten Sinne des Wortes.

Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor*innen aus renommierten Verlagen dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an die Lektor*innen weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidat*innen aus.

Die ersten drei der sechs Lektor*innen des 27. open mike stellen wir euch heute vor.


Günther Eisenhuber

Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Leider hat mir jemand meine Werkzeugkiste geklaut, Wasserwaage mit digitalem Neigungsmesser, Stahlbandmaß mit Dreieckrahmen, Tischlerwinkel mit Palisanderholzschenkel und doppelt eingenuteter Messingschiene, alles weg. Deshalb musste ich mich ganz auf mich selbst verlassen, auf meine Erfahrung und meine Erwartungen, auf mein Gespür und meine Ansprüche, auf meine Empfänglichkeit und meine Vorurteile, auf mein inneres Ohr und meine Sehnsucht nach Intensität und Präzision, auf meine Überzeugungen und meine Zweifel. Das hat mit freiem Auge bislang immer ganz gut funktioniert.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Immer wieder das eine: Auf wie viel verschiedene Arten man literarisch danebenhauen kann, weil oder obwohl es kein Rezept dafür gibt, wie es richtig geht.

Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Was ich beobachte, ist nichts, was ich mit gutem Recht für eine Entwicklung oder eine Tendenz halten kann. Dazu ist der Ausschnitt, den ich halbwegs überblicke, viel zu klein und in seinen Grenzen zu stark von spezifischen Interessen bestimmt. Bei unserem Gegenstand von Tendenzen zu sprechen ist ungefähr so redlich, wie ein Osterei zu suchen, das man selbst versteckt hat. Finden würde ich gerne mehr von dem, was man nicht für möglich hält.

Was wünschen Sie sich für die junge Literatur der kommenden Jahre?

Aufmerksamkeit und Mut, auf Seiten der Autor_innen wie auf Seiten der Leser_innen, der Verlage, der Kritik, der Jurys. Und dass sie sich gegen den Konformitätsdruck vermeintlicher Marktgängigkeit weitgehend frei entfalten kann.

Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten?

In der Arbeit am Text kaum. In der Zusammenarbeit geht es freilich um andere Fragen, da sind die Unsicherheiten und Empfindlichkeiten und Zweifel unterschiedliche. Schwer zu sagen, wie sich das in Zukunft gestalten wird, wenn die Zeit, die einem zugestanden wird, um sich zu etablieren, dazu gar nicht mehr reicht. Weil der Bonus, mit dem junge Autor_innen starten, sich immer schneller zu dem Malus verkehrt, der alten Hüten anhaftet. Und das passiert heute oft schon nach dem zweiten Buch.


Günther Eisenhuber (*1973) studierte Germanistik und Philosophie. Er war von 2004 bis 2012 Lektor und Programmleiter im Residenz Verlag und ist seit 2013 Lektor im Verlag Jung und Jung in Salzburg.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Nadine Sieger
Alexandra Stahl
Zarah Weiss

**

Martina Wunderer

Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Ist es ein guter Text? Hier wie dort. Überzeugen mich seine Sprache, seine Form, seine literarischen Mittel? Überrascht er mich, traut er sich was und reißt er mich mit? Im schönsten Fall tritt dieser Moment beim Lesen ein. Ein open mike-Text muss allerdings über die kurze Strecke funktionieren – und braucht sich in kein Programmumfeld einzufügen.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Das Schicksal der Edlen Steckmuschel, die Gefahren auf einer Kirmes im Sommer und die heitere Resilienz der Familie Alonso.

Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Ich würde sagen, es geht ihr gut. Sie ist vielseitig, verspielt und oft politisch. Besonders freue ich mich über die vielen jungen Autorinnen, die laut sind, wütend, hinreißend selbstbewusst oder unverschämt verletzlich und offen.

Was wünschen Sie sich für die junge Literatur der kommenden Jahre?

Mut, Eigensinn, Zärtlichkeit und Trotz.

Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten?

Eien Debütantni[i] hat vielleicht mehr Fragen. Etablierte Autorennni mehr Erfahrung. Die gemeinsame Arbeit am Text bleibt die gleiche. Im Grunde geht es immer um Vertrauen.

[i] Ich verwende hier Ann Cottens »polnisches« Gendering – alle für alle Geschlechter nötigen Buchstaben kommen in gefälliger Reihenfolge ans Wortende.

Martina Wunderer (*1983) studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften in Wien und Berlin und ist seit 2010 im Lektorat des Suhrkamp Verlags tätig, seit 2015 als Lektorin für deutschsprachige Literatur.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Nora Lassahn
Fiona Sironic
Angie Volk

**

Urs Engeler

Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Macht mir der Text Lust, mitzudenken, mitzufühlen, mit seinen Klängen zu hören, mit seinen Bildern zu sehen? Kommt er mir neu, unbekannt, frisch, authentisch, aufregend, verwirrend, irritierend vor?

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Überrascht hat mich, dass es viele Texte gab, die sich (offenbar) Gedichte nennen, die ich aber auch als Prosa wahrnehmen (sehen/lesen/verstehen) könnte. Anders gesagt: Zumindest ein Unterschied zwischen Prosa und Lyrik kommt mir zunehmend nivelliert vor, und das ist die rhythmische Rede als Überbleibsel des Verses und seines Metrums. Auch typographisch sind oft kaum mehr Unterschiede erkennbar, was aber nur konsequent und insofern richtig ist: Wenn es den Vers nicht mehr gibt, warum sollte man ihn dann noch optisch markieren? Dafür gibt es andere Unterschiede als Markierung: eine gewisse semantische »Dichte«, was dann »bunt« erscheint oder »undurchschaubar« bzw. (auf den zumindest ersten Blick) schwer durchschaubar.

Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Konventionalisierung. Altbackenheit. Als hätte es die Moderne nie gegeben.

Was wünschen Sie sich für die junge Literatur der kommenden Jahre?

Ich bin wunschlos (und glücklich).

Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten?

Arbeit am Text bleibt Arbeit am Text.


Urs Engeler (*1962) ist Verleger von roughbooks, Herausgeber, Übersetzer, Autor und Dozent, er lebt in der Schweiz.

Ausgewählte Teilnehmer*innen

Hannah Bründl
Carla Hegerl
Lasse Jürgensen
Friedrich Stockmeier
Clara Heinrich
Manon Hopf
Elisa Weinkötz

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.