PROSANOVA 2020: FANGESANG

Ein Gastbeitrag von Mirjam Wittig

Die Stadien sind in diesem Jahr leer, unser Gelände, das ein Literaturstadion hätte sein können, liegt brach … Ich will aus Schnipseln einen Fan-Gesang schreiben für unser PROSANOVA. Der wird nicht ungetrübt sein, aber das wäre dieses Jahr vielleicht auch eigenartig. Wer wagt zu behaupten, dass Akrostichons out sind? Wir brauchen das jetzt. Gib mir ein:

P ower! Ich habe null Armkraft zugelegt, keine Holzplanke und keinen Bierkasten getragen. Der einzige Nagel, den ich in die Wand gehauen habe, hält in meinem Zimmer unser Plakat in einem Goldrahmen. Aber: Wir haben jetzt Muskeln hinter unseren Nasenwurzeln oder Brustbeinen, wo immer die Flexibilität individuell sitzen mag, die man* mit Schnell-Umdenken trainiert. Und wir haben in den letzten unsicheren Monaten so viel Power aus der Ferne bekommen! Wir wissen uns gestärkt vom Team und von den ehemaligen Künstlerischen Leitungen, die uns schon vor über einem Jahr eine Euphorie-Hotline angeboten haben. Danke!

R eichen, Reichweite: Der Nachbar meiner Eltern heißt Jörg. Jörg gehört nicht zu den Menschen, mit deren Aufmerksamkeit wir klassischerweise rechnen (ich mag Jörg sehr gern!). Jörg saß vorgestern mit meinem Vater im Hof und wahrscheinlich haben sie geraucht und dann hat Jörg sich (er musste) auf dem Handy das Festival-Programm angesehen. Zack: Er kannte ein paar Namen und geriet glatt aus dem Häuschen und möglicherweise wird Jörg sich nun also ein Ticket kaufen und von Hessen aus mal reinschauen. In diesem Sinne ist das PROSANOVA in diesem Jahr theoretisch niedrigschwelliger: Die Tickets kosten viel weniger. Anreise und Unterkunft fallen weg – Menschen, die nicht Teil der Literaturszene sind (zu dieser bisher keinen Zugang gefunden haben, oder sie mit hip oder homogen bevorwurfen) können trotzdem die extrem großartigen Texte unserer Autor*innen rezipieren: Wir leben dieses Jahr den Traum vom theoretisch global zugänglichen Literaturangebot.

O nline bedeutet viel, es bedeutet: Autor*innen, die enttäuscht abspringen, weil die Abwanderung ins Digitale genau das falsche Signal sei. Es ist wahr, dass online bedeutet: Ein bisschen allein sein, wenn ein Format endet und das Outro kommt. Es bedeutet aber auch: Unseren Autor*innen die zugesicherten Honorare zahlen können, Debüts vorzustellen, denen die Leipziger Buchmesse fehlte. Es bedeutet hoffentlich Liebe in Telegramm-Chats, Austoben im FanFiction-Raum, Selbstbestimmung, wann welches Format rezipiert wird, wo, in welcher körperlichen Position. Online ist in diesem speziellen Fall auch: die pragmatische Antwort auf eine absurde, irgendwie historisch anmutende Situation. Ich spreche mindestens für mich, wenn ich sage, dass ich mir ein solches PROSANOVA als Ausnahme wünsche.

S pielen. Die Gewinner*innen unseres Lyrik-Wettbewerbs haben sich entschieden, in der Badewanne zu lesen, und über die Entfernung ein großartiges Gedicht im Schaum geschrieben. Wir alle mussten uns selbst neue Strukturen setzen, in denen wir das alles zeigen: Artists in Residence zeigen sich selbst und dabei Gesicht oder Ramsch oder Elefanten.

A npassung ist nicht nur für Evolution oder Kapitalismus ein super Prinzip. Kommt nicht Sprache wie Wasser überall durch? Kann nicht gerade die Literatur unter diesen weirden Bedingungen einfach weitererzählen, durch die Wand, durch den Hörer, vielleicht von Anderem, sicher mit neuem Vokabular. Ist sie, übersetzbar, nicht auch transponierbar? Wie fahren wir in social distance zusammen Taxi und wen rufen wir an, wenn uns das Theater fehlt?

N a doch. You will see.

O iphorie. Oioioioioi. Es ist nun nicht einmal mehr eine Hand voll Tage, bevor es losgeht. Im Format »Konstellation kollektiv« (Freitagnachmittag im Programm!) haben wir gelernt, dass unser Team, astrologisch betrachtet, von den abwägenden Zeichen, von Erde und Luft, nicht aber von Feuer geprägt ist. Auch von anderer Seite gab es die Rückmeldung, wir seien so ernst, wir hätten die Falte zwischen den Augenbrauen so auf die Produktionsbedingungen der Literatur gerichtet. Ist das PROSANOVA 2020 nicht stürmisch genug? Fehlt uns der innere Sektkorken? I don’t think so. Wir WOLLEN die Literatur wieder feiern, affirmativ und schamlos und ungebremst. Wir haben uns aber im vergangenen Jahr umgesehen in diesem Betrieb, der, wie könnte es anders sein, durchsetzt ist von gesamtgesellschaftlichen Debatten, und den Eindruck gewonnen: Dieser Laden ist (noch?) nicht so, dass wir ihn direkt ungebremst schamlos affirmieren wollen.

V orsicht: Das bedeutet kein bisschen, dass die Kunstprodukte, die mit uns in diesem Laden schwimmen, unsere Herzen nicht antreiben oder nicht feierwürdig sind! Im Gegenteil: Wir platzen vor Liebe für die Zeilen, die wir gelesen haben, die Stücke, die wir hören durften, für die künstlerische Wendigkeit der Autor*innen, denen wir nur sagen mussten: Bitte macht uns ein Video/Audio. Was vom 11.-14. zu sehen und zu hören sein wird, ist genau das, was wir sehen und hören wollen. Aber: Wir wünschen diesen Gebilden und ihren Autor*innen, dass der Rahmen, in dem sie sich bewegen, sich öffnet. Wir hoffen, dass unsere Positionierung, die wir einigermaßen laut überall wiederholt haben, in der nächsten Generation bereits obsolet (=selbstverständlich) geworden ist.

A lles wird sehr sehr geil. Wir haben im März kurz unter Schock gestanden und uns gefragt, ob ein Online-PROSANOVA geil werden kann … Uns fehlen die Partys schon jetzt. Wir werden nie mit Walkie-Talkies über das Gelände rennen und niemand wird uns begeistert von der langen flirty Unterhaltung mit Autor*in X erzählen. Aber: Wir sehen die ersten Videos und geraten aus dem Häuschen, wie lustig und einfallsreich, wie seltsam und abwegig die Schnipsel geworden sind, aus denen sich das Festival dieses Jahr zusammensetzen wird. Und ganz ehrlich: Kein PROSANOVA ist keine Alternative.


Mirjam Wittig
Foto: © Salma Jaber

Mirjam Wittig, aufgewachsen in Darmstadt, studierte zunächst Philosophie und Kulturreflexion in Witten/Herdecke, seit 2018 im Master Literarisches Schreiben und Lektorieren in Hildesheim. Während des Bachelor-Studiums absolvierte sie Praktika im Journalismus und war für die Organisation von Uni-Chor und -Orchester zuständig. Zudem leitete sie Schreibwerkstätten für Schüler*innen. Sie war zuletzt 2017 sowie 2019 Stipendiatin der Jungen Literaturwerkstatt Graz und 2019 Preisträgerin des GWK-Förderpreises NRW. Seit 2018 ist sie Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften, zuletzt in JENNY, Lichtungen und Glitter. Seit März 2019 ist sie Mitherausgeberin der BELLA triste und bei PROSANOVA 2020 verantwortlich für das Vermittlungsprogramm, das Artists-in-Residence-Programm, den deutsch-schweizer Lyrikwettbewerb Textstreich sowie für das Ticketing.


Alle Infos zum PROSANOVA 2020 (11. – 14. Juni) findet ihr hier, Tickets gibt’s dort ebenfalls sowie das Online-Programm im Überblick.

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