New Readings | Rebecca Gisler: Vom Onkel

Rebecca Gisler gewann 2020 den 28. open mike mit ihrem Text »Hippobosca«, in diesem Jahr erschien ihr Debütroman Vom Onkel bei Atlantis Literatur. Wir haben Rebecca ein paar Fragen dazu gestellt.

Rebecca Gisler
Rebecca Gisler © Noëmi Bräm

Rebecca Gisler: Vom Onkel

Vorschautext
Früher, wenn der Onkel Piratenschwerter gebastelt hatte, waren sie wie drei Kinder, hier im Garten, den ganzen Sommer lang. Jetzt pfeift der Onkel aus allen Löchern, obwohl er erst 52 ist, und Nichte und Neffe haben kurzerhand beschlossen, in das weiße Haus mit den blauen Läden zu ziehen. Eine WG in der Bretagne, am Ende der Welt. Der Onkel badet nie, mit der Metallplatte in seiner Hüfte schafft er es nicht mehr über die Felsen ans Meer. Höchstens fährt er mit dem Roller zum Supermarkt, wo es Wurst und Cola gibt. Aber am liebsten bleibt er in seinem Zimmer – Betreten verboten! – und schaut fern, auch wenn die Antenne vom Dach gekommen ist. Während der Bruder sich die meiste Zeit den Blattläusen an den vier frisch gepflanzten Obstbäumen widmet, beginnt die Schwester, den Onkel zu umkreisen, erkundet seine in dreißig Jahren Alleinleben entwickelten Eigenarten. Nach und nach breitet sich eine etwas ungemütliche Familienlandschaft aus, in der ein Wohnblock in einem Pariser Vorort und ein Haus am Hang in der Schweiz geographische Fixpunkte sind und wo einen Bruder zu haben ein einziger Segen war. Ein flimmerndes, vielschichtiges, berührendes Debüt, das mit originellen Figuren besticht und durch seinen rhythmischen erzählerischen Atem einen starken Sog auslöst.


Was schoss dir durch den Kopf, als du dein Debüt zum ersten Mal in den Händen gehalten hast?
Jetzt gehört es mir nicht mehr.

Beschreibe dein Debüt in zwei kurzen Sätzen.
Zwei Geschwister und ein kauziger Onkel. Eine Wohngemeinschaft am Ende der Welt.

Wie ist die Idee zu deinem ersten Buch entstanden?
Tatsächlich war zu Beginn vor allem die Figur des Onkels. Mehr als den Wunsch, eine Geschichte zu erzählen, gab es den Wunsch, den Onkel zu erzählen, ohne genau zu wissen, wohin das führen soll. Was mich persönlich am meisten interessiert beim Schreiben und am Lesen, sind die emotionalen Eindrücke, die ein Text hinterlässt, Sprachbilder die aneinandergereiht so etwas wie eine Geschichte ergeben können und weniger der Wunsch danach, etwas (nach) zu erzählen. Ich denke, dass ein Text seine Sprache erfindet, genauso wie die Sprache den Text erfindet. In Vom Onkel spiegelt die Sprache die Figur des Onkels wider und umgekehrt: Eine Psychologie, die vor allem durch Gesten und Körper entsteht, eine Abfolge von beobachteten Tatsachen in einfacher Sprache.

Wie nimmst du rückblickend die Zeit zwischen deiner Teilnahme am open mike und der Veröffentlichung deines Debüts wahr?
Sehr spannend und intensiv! Ich habe damals an der französischen sowie an der deutschen Fassung gearbeitet.

Welche anderen Künstler*innen prägen dein Schreiben?
Emmanuel Bove, Henri Calet, Joyce Mansour, Geneviève Desrosiers, Eugène Savitzkaya, Franz Kafka, Georges Perec, Simone Weil, David Lynch, César Aira, Irmgard Keun. Und ich vergesse natürlich und zum Glück viele andere.

Welchen Song würde man auf dem Soundtrack zu deinem Debüt finden?
The Orchids von Psychic TV


Rebecca Gisler, geboren 1991 in Zürich, studierte von 2011 bis 2014 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und absolvierte anschließend den Master-Studiengang Création littéraire an der Universität Paris 8. Sie schreibt auf Deutsch und auf Französisch. Ihr Debütroman Vom Onkel bei Atlantis Literatur, den sie auf Französisch und auf Deutsch verfasst hat, erschien im Herbst 2021 unter dem Titel D’oncle in Frankreich und wurde mit einem Schweizer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet. Mit einem Auszug aus der deutschen Fassung gewann sie 2020 den open mike in Berlin.

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