Open Mike 2012 – Fadeout

Kümel, Mesch, Philipp und Thomas fingieren ein Gespräch. S: Eigentlich war der Open Mike eine ganz lineare, monolithische Veranstaltung: Alle saßen im Publikum. Alle sahen und hörten – oberflächlich – GENAU dasselbe… V: Schon, aber dann geht es doch vor allem darum, dass sich überall diese kleinen Gesprächgruppen bilden, die das in Echtzeit auseinanderpflücken, dass dieses produktive Stimmengewirr entsteht. S: …und ich glaube, das macht diesen Blog so wichtig: Elenas Verdikte. Victors Lieblingssätze, Fabians Interviews und charmanter Nebenbeiquatsch wie der „Ich habe eine Tiefkühlpizza entdeckt, in Neukölln“… das tut der Art, wie wir den Open Mike erleben und lesen, sehr gut. Vier Perspektiven. Blicke. ANDERE Stimmen. Bevor jetzt, im Nachhinein, die Presse anrückt, mit ihren „Wir finden einen Konsens. Wir dampfen das Wochenende zu ein, zwei großen Thesen ein!“-Texten. F: Das Tolle an dieser Berichterstattung: Gerade sitzen die Preisträger zwei Meter von uns entfernt und planen mit Thomas Wohlfahrt ihre Lesereise. Sandra Gugic hat vorhin Victors Jacke vom Boden aufgehoben. Marcel Beyer hat sich nach dem W-Lan-Passwort erkundigt. [E ruft dazwischen: Und Thomas Wohlfahrt wird sich die Jury-Laudationes aus dem Blog ausdrucken! Die haben wir nämlich geheimdienstlich ermittelt .]

©tesla42 / Patrick Hutsch

Das sind die ganzen kleinen Dinge, die hier um uns herum passieren, und wir schreiben einfach mit, ohne Anspruch auf Konsens, Thesen oder Verklärung. V: Thesen: Interessant fand ich, dass zwei ehemalige BELLA-Redakteure über Juan Guse sagten, das sei ein typischer BELLA-Text. Der eine im positiven, die andere im negativen Sinne. Von wegen: das ist doch schon wieder so ein Text, den wir typischerweise gedruckt hätten. Wo ich so dachte: Ja na klar, weil er halt gut ist, was soll das denn heißen? E: Das Zeitschriftenäquivalent zur Schreibschulprosa!? V: „Das ist doch schon wieder so’n Literaturzeitschriftentext, das kennen wir doch“? Das wäre ein ziemlich vernichtendes Urteil, also für die Zeitschriften. F: Ich fand „Pelusa“ beim Lesen ja eher blass, für mich hat er stark über den Vortrag gewirkt. Auf der Bühne hat der Text eine gewisse Rhythmik aufgebaut, die ich auf dem Papier nicht gefunden habe. S: Joey Juschka macht mich glücklich – weil ich ihr ein großes, lautes „Du bist toll. DU hast uns etwas zu erzählen. Leg los… und arbeite weiter!“-Signal gönne. Leute, die immer wieder und seit Jahren auf das „ICH will schreiben! DAS ist mein Leben!“-Pferd setzen, werden weiter machen – so oder so. Joey kenne ich nicht. Hat Schreiben eine große Priorität für sie? Falls sie zweifelt, ob das eine Zukunft hat, hoffe ich, dass dieser Preis ihr hilft, noch mehr zu liefern. F: In der Pressekonferenz vor der Juryverkündung sagten die Lektoren, dass die eingereichten Texte insgesamt wenig zeitgeschichtlich, politisch oder welthaltig seien. Das würde ich, zumindest für Joey Juschka, in Frage stellen. Wenn ein Text wirklichkeitsnah war, dann ja wohl dieser!


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V: Wirklich jetzt? E: Hm, das ist ja nun auch schon ein alter Schuh, der Vorwurf der Selbstbezüglichkeit und fehlenden Welthaltigkeit… Dabei ist so eine Schreibhaltung  ja absolut zeitgenössisch: Wer würde sich denn noch den Panoramablick zugestehen? Bei all den Informationen, Wissenshaufen, dem pausenlosen Gespreche via Blog, Facebook & Co.? Und wer den Weitwinkel auf Historisches wagt, der landet dann ja auch manchmal, wie in diesem Jahr „Knochenarbeit“ von Verena Boos, beim wohlmeinenden Pathos – was vielleicht auch mal gut ist, dass sich das jemand traut, aber ich persönlich finde das schwierig. F: Letztlich hängt es aber doch auch von noch ganz vielen anderen Faktoren ab, ob ein Text wirklich funktioniert, „Welthaltigkeit“ ist ja an sich kein Qualitätskriterium. Das war jedenfalls ein Widerspruch, der mir irgendwie aufgefallen ist. Eine Überraschung war für mich Martin Piekar. Fällt auf, fällt aus der Reihe und hat eine große Präsenz entwickelt. Und ich fand seine Reaktion schön, als er zur Preisverleihung nach oben geholt wurde: „Scheiße geil, wie meine Generation sagen würde.“ V: Ja, ich war auch überrascht, ich muss sagen, ich hatte ihn nicht auf dem Zettel, es waren ja ganze sieben Lyrikbeiträge dieses Jahr, da haben mir andere mehr zugesagt. E: Kokot, Vogelgesang und auch Breyger, jawoll. Andererseits habe ich die Text von Martin Piekar nur überflogen, kann also gar keine gültigen Aussagen zur open mike-Lyrik 2012 treffen. Und als Martin Piekar las, habe ich wie behämmert in die Tasten gehauen. S: Sandra Gugics Text muss ich nochmal komplett lesen – aber das hat gut geklappt für mich: Bei einer Verfilmung kann die Schauspielerin (in der Rolle der Hauptfigur) in leeren Zimmern stehen, und sich in zwei, drei knappen Zuckungen der Mundwinkel die Seele aus dem Leib spielen. Sehr suggestiv. V: Ja! Wobei, wenn man es ganz ernst meint, müsste man der Hauptdarstellerin eigentlich ne Helmkamera aufsetzen. Ins Bild kommt sie nur durch die Fotos, die sie von sich macht. Schon für diese zwei Bilder würde sich das lohnen. E: Witziger Gedanke, das mit dem Film. Dann wäre „Pelusa“ für mich der Stoff für einen richtig hochgezogenen Hollywoodhorror oder, am anderen Ende der Skala, für einen Filmhochschulabschlussfilm, körnig und off. Gibt’s eigentlich ein Bild von unserem Hauptquartier hinten im Saal? Sah schon recht nerdig aus: ein paar Stecknadelköpfe zwischen Kabeln und Rechnern, im bläulichen Leuchten…

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