Von Rabea Edel
I.
Ich bin Erzählerin aus Überzeugung. Wenn meine Figuren ihr Ich zerstören, zerstören sie es bestmöglichst. Wenn ich schreibe, schreibe ich so, dass ich nach Stunden und Wochen und Monaten des Kürzens, die Geschichten auf das reduziert zu haben glaube, was ihr Kern ist, das, wo die Figuren nicht mehr transparent sind, sondern zurück in ein Dunkles gestellt sind, das einen Schatten wirft, ihnen einen Raum gibt, eine opaken. Ich schreibe nicht gegen die Dinge an, aber ich sehe sie an, ich betrachte sie sehr genau. Dabei wird alles zu Material, auch das, was zuvor Transparenz ist, wird verstofflicht. Transparenz meint in diesen Tagen auch immer die Angst vor dem Verschwinden. Verschwinden im Digitalen. Angst aber ist der größte Feind der Geschichten, der Figuren und des Schreibens.
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Bei Gewitter umklammerte ich als Kind immer einen Stein, den ich am Strand aufgesammelt hatte, und der sich ganz genau in meine Handschale fügte, solange, bis der Stein warm wurde, bis Blitz und Donner genügend Abstand voneinander hatten. Ich berührte Dinge. Manchmal zählte ich. Die Zwischenräume der Zebrastreifenmarkierungen, das Aufspringen des flachen Steins auf der Wasserhaut.
Heute berühre ich die Dinge immer noch. Ich tippe auf dem IPad herum, schiebe Fotos und Textdokumente auf Touchscreens hin und her oder zeige manchmal mit dem Finger zu nah am Bildschirm auf ein Gesicht oder ein Wort. Ich telefoniere mit jemandem am anderen Ende der Welt, lege die Finger auf Kunststoff oder Glas und hinterlasse Abdrücke darauf.
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Einhergehend mit dieser Berührung wird der Blick asymmetrisch: Schaut man durch das Kameraauge auf sein Gegenüber, scheint die räumliche Trennung aufgehoben. Das Angesehenwerden und das Ansehen entsprechen sich aber nicht mehr. Das liegt an der Kameraoptik – beim Skypen sieht man sich nie in die Augen – aber auch daran, dass das Andere fehlt. Verdunkelt sich der Bildschirm, erscheint im Spiegel das eigene Gesicht. – »Ein transparentes Antlitz gibt es nicht. Ein Antlitz, das man begehrt ist immer opak«, schreibt Byung-Chul Han in seinem Buch »Im Schwarm. Ansichten des Digitalen« (Berlin 2013). Ein Schatten, das Dunkle verursacht das Begehren. Das Begehren, da ich brauche, um eine Geschichte erzählen zu wollen, das Verlangen, das jeder guten Figur innewohnt, das sie durch ihre eigene Geschichte treibt. In der Transparenz des Touchscreens oder Bildschirms verschwindet jedoch dieser Schatten, das Opake: Alles wird gespenstisch. Ich arbeite, wenn ich am Bildschirm schreibe in der und gegen die Transparenz
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Miriam Meckel zitiert in ihrem Essay »Wir verschwinden. Der Mensch im digitalen Zeitalter.« (Zürich, Berlin 2013) einen Augenzeugenbericht aus der New York Times zu einem US-amerikanischen Drohnenangriff im Januar 2013 im Jemen: »We found eyes, but there were no faces left.« Im »Zeitalter der totalen Transparenz und der gleichzeitigen neuen Unsichtbarkeit« geschieht eines: Die Augen sind da. Aber das Individuelle verschwindet.
Google Glas preist die grenzenlose Freiheit des Sehens an: Alle 10 Sekunden ein automatisches Bild und die Information dazu. So kann jeder jeden ständig fotografieren und speichern – indem er ihn ansieht. Google Glas ändert den Blick. Information = Sein. Abgesehen von den Potentialen der totalen Überwachung, verliert damit das Gegenüber sein Gegen, die Negativität, die es anziehend macht. So scheint die Distanz zu den Dingen und Menschen zu schwinden. Aber unser inneres und äußeres Auge sind zu wenig miteinander verbunden, nie können alle Bilder erfasst werden, alle Informationen verarbeitet werden – wir berühren die Schnittstellen zur digitalen Welt, die Touchscreens, aber das Hinübergleiten wird immer unmerklicher. Wo ist noch Heideggers »Schmerz der Nähe der Ferne«?
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Das Angesehenwerden (vielmehr: Nichtgesehenwerden) ist im Digitalen mit der Quantifizierung der Blicke verknüpft. In der Facebook-Timeline herrscht Addition statt Narration. »Alles, was nicht zählbar ist, hört heute auf zu sein«, diagnostiziert Byung Chul Han. Hören wir also auf zu sein, wenn wir das Ritual des Ansehens und Gesehenwerdens auf den digitalen Kommunikationskanälen, auf Touchscreens und Bildschirmen für eine Weile bleiben lassen? Werden wir dann zu Gespenstern der Gespenster? Im Gegenteil, wir geben dem Narrativen einen Raum. Wir geben den Gespenstern, wenn wir sie hinüberholen aus dem Digitalen, einen Körper in der Sprache.
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Stellen wir uns Ruth Berlau und Brecht in der Nervenheilanstalt in New York vor: Brecht möchte sie mit nach Hause nehmen, sie aber weigert sich. Es ist, als ob er sie nicht mehr sehen würde, als ob er sie zurückgelassen hätte an einem anderen Ort, sagt sie. Ohne zu sehen, kann man leben. Aber ohne gesehen zu werden nicht. Wird man nicht gesehen, wird man nicht geliebt. So einfach ist es.
Per Olov Enquist schreibt bereits 1985 in seinem Buch »Gestürzter Engel« über genau diese Momente des Nichtgesehenwerdens: Ruth Berlau in der Nervenheilanstalt, ein Junge in der Psychatrie, ein Mann in einem Eisgrab in den norwegischen Bergen: Schmelzwasser ist über sein Gesicht gelaufen, »so dass das ganze Gesicht von einer dünnen klaren Eishaut überzogen war. Durch sie hindurch konnte er Teile von Gegenständen sehen, die er wiederzuerkennen glaubte: graue Wolken und einen Vogel hoch oben, der sich bewegte wie ein Schatten. Als der Schnee kam, wurde er ganz undurchsichtig, und die Details verschwanden: da war er endlich frei.« Der Blick stößt gegen eine Wand aus Schnee und wird frei von der Transparenz. Hier mit dem Tod verbunden, an anderer Stelle mit dem Begehren, der Liebe, die im Erkennen und akzeptieren des Opaken verankert ist.
Die digitalen Orte, die ich auf der Recherche für Geschichten und Figuren durchstreife und in denen ich bookmarke und copypaste, die Geschichten und bilder, dieser unendliche Fundus, der Nähe fingiert zu allem, was er zeigt, macht die Welt also gespenstig. Aber schauen wir noch weiter zurück: In einem Brief an Milena schreibt Kafka: »Wie kam man nur auf den Gedanken, dass Menschen durch Briefe miteinander verkehren können. Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft.« Küsse, die man aufschriebe, würden unterwegs von Gespenstern aufgefangen und ausgetrunken, »die Gespenster werden nicht verhungern, aber wir werden zugrunde gehen.« Trotzdem oder gerade deswegen hat Kafka natürlich Briefe geschrieben und Bücher. Gegen die Gespenster anschreiben.
Byung-Chul Hul sagt: »Ganz transparent ist nur die Leere.« – Diese Leere wird von uns auf Facebook, Tumblr, Twitter und Co im täglichen Postingritual gefüllt. Alles kann gezählt und beobachtet werden – was aber wird gesehen? »Wir sehen im Digitalen nur die Gespenster. Die Menschen, die sie sind und einmal waren, sehen wir nicht,« sagt Miriam Meckel. Diese Gespenster aber die Herausforderung. Sie zu nutzen und die Leere zu füllen, nichts anderes ist das Schreiben, egal ob im Digitalen oder im Gedruckten, die Veröffentlichungsform egalisiert nicht den Inhalt der Worte. Das Anschreiben gegen die Transparenz also.
Wenn also der Blick an der glatten Oberfläche der Bildschirme abzugleiten droht, muss der Blick neu geschult werden, das innere wie äußere Auge, und mit ihm die eigene Stimme.
Der Stein, den ich als Kind oft in der Hand hielt, liegt neben meinem Laptop. Ich wende ihn eine Weile hin und her und stecke ihn in die Jackentasche. Ich vergesse ihn dort, trage ihn eine Weile mit mir herum, bis ich auf der Suche nach dem Schlüssel oder Handy mit den Fingern dagegen stoße. Er erinnert mich an das Herantasten an das Unsichtbare, indem ich es anfasse. Ein Stein verkörpert das Gegenteil von Transparenz. Ein Text ist das Gegenteil von Transparenz. Er nutzt sie, aber er ist nicht durchsichtig.
»Die Katze sitzt auf dem Fußboden,« schreibt Enquist, »anderthalb Meter von mir entfernt, betrachtet mich. Gehe ich ins nächste Zimmer, folgt sie mir, setzt sich im gleichen Abstand. Versuche ich, sie zu streicheln, weicht sie aus. Sie kann nicht ohne mich leben, sie kann sich nicht berühren lassen. Einfacher als das ist es nicht. Wer hat gesagt, dass es einfach sein soll.«
Per Olov Enquist: Gestürzter Engel. München 1985.
Franz Kafka: Briefe an Milena. Frankfurt am Main 1983.
Byung-Chul Han: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin 2013.
Miriam Meckel: Wir verschwinden. Der Mensch im Digitalen Zeitalter. Zürich – Berlin 2013.