38 Mal „Meer“ auf 180 Seiten Anthologie. Das ist ein Mal „Meer“ alle 4,73 Seiten und damit viel mehr, als ich mir je erträumt hätte. Denn bei zwanzig inhaltlich und stilistisch so unterschiedlichen Wettbewerbstexten, situiert an den verschiedensten Schauplätzen zwischen Großstadt und Festung, mit jungen und alten, magischen und realistischen Figuren, ist das Meeresmotiv dasjenige, das viele der diesjährigen Wettbewerbstexte gemein haben.
Bei Erstleserin Hilde Drexler wird der „Zinnentanz“ auf den „Klippen über dem Meere“ aufgeführt, in Dominique Klevinghaus‘ „Villa am Wasser“ treffen wir auf den König der Meere, für die Skater in Felix Krackes „Bist’n good boy, Matze“ „wogt die Stadt, als sei sie das Meer“ und bei Lena Rubey wird das Meer sogar zur Hauptfigur. Was fasziniert am Meer, an Ebbe und Flut, an Tiefe und Weite? Und als was lesen wir es: als Sehnsuchtsort, als Motiv der Unendlichkeit, als Hüter von Geheimnissen, als Friedhof unserer Zeit? Ich habe mit zwei Autoren darüber gesprochen.
Bei Lena Rubey verstrickt sich das Du zunehmend mit dem Meer und der „Text beginnt zu fluten – und überschwemmt unsere Gegenwart“:
In der Wildnis deiner Weite möcht ich verloren gehen. Ist das nicht zynisch, das heute zu sagen, mit Gedanken zu einem anderen Meer, das eingebettet liegt zwischen den unüberwindbaren Mauern von Europa auf der einen Seite – die Sicherheit und der Wohlstand gut geschützt und abgeschirmt – und den brennenden Ländern der südlichen Kontinente auf der anderen Seite. Ja, das Wasser, das zu einer zweiten Mauer geworden zu sein scheint. Und mit Booten ist es schwer, über Mauern zu gelangen.
Dominique Klevinghaus führt uns in seinem Text ein bizarres Wesen als Meereskönig, ja, als das Meer selbst vor. Denn dort gelten andere Gesetze als an Land:
– »Vom Meer komme ich, ich bin das Meer.«
»Wie meinst du das?«
– »Ich bin derer von Meer, einer der unzähligen Könige der Tiefen.«