Was war für Dich die größte Überraschung?
Gerrit: Für mich war die Omnipräsenz des Meeres in den Texten der Kandidaten erstaunlich. Die Deutschen und Österreicher sind ja nun nicht als besonders maritime Völker bekannt. Man konnte im Ansatz schon erkennen, was Literatur im Stande ist zu leisten: Die Brüche zwischen politischer Gegenwart und jahrhundertelanger Literaturtradition sichtbar zu machen.
Xaver: Dass ich insgesamt mit der Lyrik mehr anfangen konnte als mit den Prosatexten und, dass es tatsächlich Schreibschüler gibt, die Texte über das Schreiben schreiben.
Tabitha: Dass ausgerechnet der Publikumspreis der taz-Jury an den Text von Philip Krömer gegangen ist, hat mich überrascht: Als ein poetologischer Metatext über einen zwar in Österreich hochgehaltenen, aber in Deutschland doch eher nicht-kanonischen Autoren wie H.C. Artmann, der auch noch mit sprachlichem Witz daherkommt, hat „der eine der andere“ auf jeden Fall eine Auszeichnung verdient. Nochmals Glückwunsch!
Theresa: Da schließe ich mich an: Die Wahl der taz-Publikumsjury war auch für mich die größte Überraschung. Zugegeben, ich dachte, dass hier ein zugänglicherer – weil publikumstauglicherer – Text ausgezeichnet werden würde. Dass es „der eine der andere“ wurde, ein hoch artifizieller und überaus vielschichtiger Text, hat mich sehr gefreut.
Gab es eine Enttäuschung?
Gerrit: Ganz klar die Jury-Entscheidung über die Preisgewinner. Bei zwanzig unterschiedlichen Texten kann es immer vorkommen, dass ein guter Text mal nicht beachtet wird. Doch bedauerlicherweise hat nicht ein guter Text an Stelle eines anderen gewonnen, sondern ein wirklich schwacher Text wurde völlig überraschend ausgezeichnet. Normalerweise ist der Standardvorwurf an die Literaturkritiker immer, sie sein traurige Gestalten, die es nicht zum Schriftsteller gebracht haben. Nun haben wir den Beweis: Talentierte Schriftsteller sind nicht unbedingt gute Literaturkritiker.
Xaver: Anders als die meisten anderen fand ich die Jury-Entscheidung nicht enttäuschend, sondern ganz plausibel. Enttäuscht war ich eher davon, dass ich keinen Text gehört habe, von dem ich sagen würde: Da will ich jetzt unbedingt noch mehr lesen.
Tabitha: Ein wenig schade finde ich, dass auf die Blogbeiträge nur wenige Reaktionen (z.B. in Form von Kommentaren oder Posts zum Wettbewerb auf anderen Literaturblogs) zurückkamen. Da dem open mike im Vergleich zu anderen Wettbewerben die Debattenkultur fehlt, hätte ich mir ein paar hitzige Diskussionen auf dem Blog gewünscht.
Theresa: Ich bin enttäuscht für diejenigen Texte und AutorInnen, denen ich eine Auszeichnung sehr gewünscht hätte. Andererseits: Je strittiger das Jury-Urteil, desto spannender die Diskussion über den Wettbewerb …
Dein Fazit zum open mike 2015?
Gerrit: Immer noch ein toller, ein wichtiger Wettbewerb. Ich würde dem open mike allerdings mehr Debattenkultur wünschen und finde, die Jury könnte sich schon auch mal jenseits ihres Rückzugsrefugiums fetzen. Und: Mehr Mut der Autoren. Im Text wie auch im Vortrag. Da mag zwar auch viel Aufregung dabei sein, das kann ich gut verstehen, aber sie wirken alle schon erschreckend erwachsen. Es muss ja nicht gleich die Rasierklinge an der Stirn sein.
Xaver: Ich freue mich schon, das nächste Mal als Besucher dabei zu sein. Dann muss ich nicht so „professionell“ sein und kann mich auch mal entspannen und die Leute und die Stimmung beobachten.
Tabitha: Auch wenn die Jury-Entscheidung letztendlich umstritten ist: Um den Nachwuchs in der deutschsprachigen Literatur muss man sich keine Sorgen machen. Der 23. open mike brachte tolle Texte mit sich, die neugierig gemacht haben. Ich bin gespannt, welche Autoren wir bei einer der freitäglichen Debüt-„Ernteabende“ der nächsten Jahre wiedersehen und -hören.
Theresa: Alle Jahre wieder ein spannendes Wochenende mit inspirierenden Texten, wenig Schlaf und guter Stimmung. Auch wir als Blogredaktion haben super funktioniert, danke dafür und hoffentlich bis nächstes Jahr.