Jessica Linds literarische Empfehlung für den Roman »Kaltblütig« von Truman Capote

Über Verbrechen, die Liebe und das Lesen

Ich habe in meinem Leben nur ein Buch gestohlen: KALTBLÜTIG von Truman Capote hat mich zu einer Diebin gemacht und macht diesen Text zu einem Geständnis. Ich habe das Buch mit den leicht vergilbten Seiten, die von einem schwarzen Einband eingefasst werden, auf dem in schlichten, silbernen Lettern Titel und Name des Autors stehen, das wohl schon lange bevor ich es in meine Hände bekam, von seinem Schutzumschlag getrennt wurde, aus dem Regal im Flur des Hauses der Eltern meines Freundes gezogen und in meine Tasche gepackt. Mir stand eine einstündige Zugfahrt durch die Voralpen Niederösterreichs bevor, eine Zugstrecke, die entlang eines Flusses, zuerst von Bergen, später von Hügeln und am Ende von Flachland gesäumt wird, die eine gewisse, schroffe Schönheit besitzt, der ich aber, zu dieser Zeit, als ich ca. zwei Mal die Woche mit dem Zug fuhr, überdrüssig geworden war. Das mitgebrachte Buch, an das ich mich heute beim besten Willen nicht mehr erinnern kann, war bereits ausgelesen. Liebe Leserin, du siehst also: Ich hatte keine Wahl. – Gut, ich hätte um Erlaubnis fragen können und die Eltern meines Freundes hätten mit Sicherheit nichts dagegen gehabt und wahrscheinlich machte das Wissen darum, die Notwendigkeit für mich obsolet (was nur als Zeichen für einen schlechten Charakter gedeutet werden kann). Ich hatte damals kein schlechtes Gewissen und auch heute, wenn ich in mich hineinfühle, verspüre ich kein Bedauern. Heinz und Rosi, falls ihr das lesen solltet, möchte ich mich zwar nicht entschuldigen, aber Danke sagen. Dieses unscheinbare Buch, dessen Titel mich von all den Büchern im Regal am meisten angesprochen hat, obwohl ich kaum Krimis lese, war eine Entdeckung für mein jüngeres Ich. Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich damals war, aber älter als 18 und jünger als 22. Truman Capote sagte mir etwas als Autor von FRÜHSTÜCK BEI TIFFANY. Ich hatte nur den Film gesehen und mir war vor allem das Lied im Gedächtnis geblieben, das Audrey Hepburn im Fenster singt, eine jener Szenen, die in die kulturelle DNA unserer Gesellschaft übergangen ist, tausendmal zitiert, variiert, karikiert und für mich wie so oft ein „Aha, daher kommt das also“ – Erlebnis. Außerdem eine Szene, in der im strömenden Regen nach einer Katze gesucht wird. In meiner jugendlichen Ignoranz verband ich Capote mit Romantik, mit Protz, mit Kitsch. Und nun hielt ich ein Buch von ebendiesem Autor mit dem Titel KALTBLÜTIG in Händen.

 

Die Beziehung, die ich mit einem Roman manchmal über mehrere 100 Seiten eingehe, beginnt oft mit einer schüchternen Annäherung. Man trifft sich kurz, liest zehn, vielleicht zwanzig Seiten, bevor man das Buch beiseite legt und den restlichen Tag darüber nachdenkt, ob das gut gehen kann mit uns. Sind wir nicht doch zu verschieden? Immerhin gibt es noch so viele andere Bücher, die gelesen werden wollen. Die man gelesen haben soll. Muss. Der Kanon ist unendlich! Und unsere Zeit hier auf Erden ist kurz und wer weiß, ob es in der Hölle Bücher gibt? Unfähig, eine Entscheidung treffen zu können, lese ich weiter, bis ein Sog entsteht und ich das Buch nur noch schwer weglegen kann. Irgendwann, meistens bei der Lektüre der letzten 100 Seiten, trifft mich ein Gefühl der Wehmut. Bald wird unsere gemeinsame Zeit vorbei sein, flüstert eine Stimme in meinem Kopf und ich werde traurig. Egal, ob das Buch gut oder schlecht endet, ob alle glücklich sind, oder alle sterben, ich fühle mich alleine gelassen von den Charakteren, die nichts von meiner Einsamkeit wissen. Ich leide mit ihnen mit, erkenne mich in den Sätzen wieder, zwischen den Zeilen, aber sie wissen nichts von mir. Das Buch wurde nicht für mich geschrieben, wird mir schmerzlich bewusst. Ich muss mich gebrochenen Herzens auf die Suche nach einem neuen Begleiter machen. (Liebe Leserin, ich bin mir der Koketterie durchaus bewusst, die in diesem Geständnis mitschwingt, aber sei versichert, es steckt auch eine Wahrheit dahinter.)

 

Bei KALTBLÜTIG war es anders. Schnell hatte ich mich in das Buch verliebt. Diese klare, analytische Sprache, die gefiel mir. Mit welcher Schonungslosigkeit die Mörder gezeichnet wurden, eine Klarheit, die eine Liebe für die Figuren voraussetzt, für ihre Schwächen und Fehler. Erst später habe ich erfahren, dass der Roman ein Tatsachenbericht ist, Wegbereiter des „New Journalisms“, wie es auf Wikipedia steht. Der Notiz auf der ersten Seite: „Wahrheitsgemäßer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen“ maß ich keine allzu große Bedeutung bei. Für mich als Leserin macht es ohnehin wenig Unterschied, ob die Tatsachen wahr, oder erfunden sind. Ich erinnere mich, wenn die Lektüre lange zurück liegt, eher an den Leseeindruck, als an den präzisen Ablauf der Handlung. Aber als Schreibende bewundere ich den Mut, sich als Autor der Wirklichkeit auszusetzen, die, noch vielmehr als bei der Recherche für Fiktionales, auf die Person des Erzählenden einwirkt. Es sind Menschenleben, die man sich ausborgt und damit macht man sich verantwortlich. Moralisch, natürlich, aber auch noch auf eine andere Weise, für die ich nicht das richtige Wort finde. Indem man in die Haut von Menschen schlüpft, die es wirklich gibt, geht man eine gefährliche Symbiose ein.

 

Kaltblütig ist ein großartiges Buch. Es berührt mich, es bringt mich dazu, grauenvolle Mörder verstehen zu wollen. Es ist ein Buch, in dem man den Erzähler spürt, in dem man sich vor allem mit dem Erzähler verbündet, die Neugier teilt und auch die Faszination, die niemals in puren Voyeurismus ausartet. Die distanzierte Erzählweise führt, so paradox es klingt, zu einer großen Nähe. Es ist ein Buch, man entschuldige mir die Phrase, das unter die Haut geht. Und auch, wenn ich in meinem Leben als Leserin viele Liebhaber und Gespielinnen hatte, wird KALTBLÜTIG immer einen besonderen Platz in meinem Herzen und in meinem Bücherregal haben. Wehe dem Langfinger, der auf die Idee käme, es mir zu stehlen!

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