Aus der Textwerkstatt von Toby Dax

Kapitel 0,5. Angedeutete Schlafmohnmetapher bei hunderttausend Lux

Wir müssen uns die Szenerie folgendermaßen vorstellen: Eine schnurgerade Landstraße, an der ein viereckiges Haus steht. Dieses Haus hat aus unerfindlichen Gründen keine Tür, was uns aber nicht länger aufzuhalten hat. Verdächtig ist auch, dass es nur ein Fenster gibt. Es ist zu allem Überdruss glaslos, aber vergittert. Der gegenwärtige Sommer ist heiß und es herrscht eine verdächtige aber gemütliche Stille, die als idyllisch und grausam zugleich beschrieben werden könnte. Nur die Grillen zirpen unaufhörlich und bilden ein nie enden wollendes Echo, das sich allmählich in den weiten Feldern, die man von dem vergitterten Fenster aus sehen kann, verliert. Wir müssen an dieser Stelle bemerken, dass besagtes Fenster sehr klein ist – es ist gerade so groß, dass ein Mensch von normaler Statur einen durchschnittlich großen Kopf passierenden Personen zur Schau stellen könnte. Daraus folgt, dass man nur ein kleines Stück der Landstraße ausmachen kann, wenn man am Fenster steht. Zu viele Meter der staubtrockenen Straße liegen in einem toten Winkel, als dass man von drinnen sicher sein könnte, man habe es mit einer schnurgeraden Straße zu tun.

Wenn wir nun vorsichtig von außen nach innen in das Zimmer blicken, erschrecken wir möglicherweise. Das liegt daran, dass sich im Inneren tatsächlich jemand aufhält. Es ist ein Mann von normaler Statur und mit einem durchschnittlich großen Kopf. Wie alt er ist, können wir nicht sagen. Er sieht vielmehr so aus, als hätte er kein Alter. Ein Umstand, an den wir uns gewöhnen müssen. Der Mann liegt regungslos auf einem Bett, schweigt und starrt an die Decke, die ihm in knapp zwei Meter Höhe seine Grenze aufzeigt. Weil es nur ein kleines Fenster gibt und draußen der trockene Boden zu dampfen begonnen hat, gehen wir davon aus, dass ihm sehr heiß sein muss. Aber der Mann sieht keineswegs aus, als störe ihn die Hitze. Sein Atem ist flach und er ist so sehr in Gedanken versunken, dass er uns nicht mal bemerken würde, wenn wir tatsächlich dort wären. Das mag uns etwas widersprüchlich vorkommen, aber damit müssen wir umzugehen lernen, wenn wir diese Geschichte, die keine ist, weiter verfolgen wollen.

So liegt der Mann also da und starrt regungslos an die Decke, die ihm seine Grenze aufzeigt. Wir nehmen an, dass er dem Geräusch der zahllosen Grillen lauscht, wenn er sich nicht bereits so sehr daran gewöhnt hat, dass er es nicht mehr wahrnimmt. Wir können nicht genau sagen, warum dieser Mann unser Mitleid erweckt. Es könnte daran liegen, dass er eingesperrt ist. Aber vielleicht auch an seiner Einsamkeit. Es mag aber auch darin begründet sein, dass wir uns ihm in gewisser Weise verbunden fühlen, so wie das unter Artgenossen oft der Fall ist, wenn eine gesunde, menschliche Empathie zwischen Individuen herrscht. Wir nehmen uns vor, den Mann die nächsten Tage zu beobachten.

Wir müssen uns die Straße endlos lang vorstellen, weil sie von unserem Blickwinkel aus den Anschein erweckt, sie führe beidseitig ins Nichts. Auf den weiten Feldern, die sich nach allen Richtungen hin bis zum verschwommenen Horizont erstrecken, blüht roter Mohn. Im Sinne der Geschichte müssen wir uns den Mohn allerdings in einem farblosen Grau vorstellen, weil allzu prächtige Farbeindrücke die Geschichte in ein falsches Licht rücken und die wenigen Zeugen dieser Geschichte irritieren oder ablenken könnten.

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