Die Lektoren des 24. open mike 2016. Heute Marion Kohler, Esther Kormann & Daniela Seel

Marion Kohler, Esther Kormann & Daniela Seel

Lektor*innen, die: drei Frauen & drei Männer, deren Job es ist Bücher zu »machen«. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verlagen oder sind selbst Verleger*in, sie kommen aus Graz, München, Frankfurt oder Berlin, und arbeiten seit Jahren mit Autor*innen an deren Manuskripten, begleiten sie auf dem Weg zum fertigen Buch, sind Ratgeber und manchmal auch Freund, immer aber »erster Leser«, und das vor allem kritisch im besten Sinne des Wortes. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels stellt dazu fest: »Die Aufgaben des Lektors sind vielfältig: er ist kritischer erster Leser und Begleiter bei der Entstehung eines Werks. Der Lektor ist Korrektiv im Schöpfungsprozess, er vertritt die Sache des Autors gegenüber der Öffentlichkeit und zugleich die Interessen des Lesers.«

Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor*innen aus renommierten Verlagen dazu ein, die Vorjury zu sein: nach Einsendeschluss im Sommer, werden die bis zu 700 anonymisierten Manuskripte an die Lektoren weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidaten aus.

Gestern haben wir die ersten drei vorgestellt, heute noch einmal drei.

Marion Kohler

Mit welchen Erwartungen sind Sie an die open mike-Texte herangegangen?
Als Lektorin ist man immer auf der Suche nach neuen Erzählmustern, nach sprachlicher Innovation, nach einem neuen Blick auf die Welt, der sich im Text spiegelt. An den kniehohen Manuskriptstapel, den ich von den open mike-Kollegen zugeschickt bekommen habe, habe ich die Hoffnung geknüpft, neue Erzähltalente zu finden, literarische Stimmen, die Leserinnen und Leser in ihrem Innersten berühren. Und tatsächlich, in meinem Stapel fanden sich besondere Autorinnen und Autoren, denen wir Gehör schenken sollten – erfreulicherweise haben sich meine Erwartungen erfüllt.

Welche Kriterien haben Sie an die Texte angelegt – waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?
Die open mike-Texte sind ja kurze Texte aller Couleur, und doch schwingt bei mir beim Lesen immer die leise Hoffnung auf eine sich ereignende unerhörte Begebenheit mit, auf einen letzten Satz, der das Vorhergehende infrage stellt. Ich möchte überrascht werden von einem open mike-Text, und wünsche mir, dass die Autorinnen und Autoren von der Lust am Erzählen vorangetrieben werden und den Mut zur sprachlichen und/oder formalen Innovation haben. So entstehen Texte, die etwas Eigenes, etwas Unverwechselbares haben. Nach sprachlich und formal originellen Texten suche ich natürlich auch für die DVA; doch um in das Verlagsprogramm aufgenommen zu werden, müssen noch ganz andere Voraussetzungen erfüllt sein.

Was war bei der Lektüre der Manuskripte die größte Überraschung für Sie?
2010 war ich schon einmal in der Auswahljury des open mike; damals ließ sich ein Trend hin zur Fantasy ausmachen. Viele Autorinnen und Autoren siedelten ihre Figuren in phantastischen Welten an, manche märchenhaft, andere dystopisch. Wir Lektoren und Lektorinnen vermuteten, dass sich das auf die veränderten Leservorlieben zurückführen ließ. Auch auf den Bestsellerlisten fanden sich ja damals viele Fantasyromane. In diesem Jahr hatte ich keinen einzigen Text, der phantastisch angelegt war. Hingegen zeichnete sich ein anderer Trend ab: hin zum Realismus. Das Thema, das uns alle in Europa seit gut einem Jahr beschäftigt, hat Einzug ins Schreiben gefunden: Ich hatte viele Texte auf dem Tisch, die das Thema Flucht und Einwanderung sehr ernsthaft und mit realistischen Mitteln bearbeiteten. Diese Kehrtwende in nur wenigen Jahren hat mich verblüfft.

Marion Kohler
Marion Kohler

Marion Kohler, geboren 1973, studierte Skandinavistik, Anglistik und Publizistik in Bochum, Berlin, Uppsala und Stockholm. Sie ist nach Stationen beim Alexander Fest Verlag in Berlin und bei der Agnes Krup Literary Agency in New York nach München gezogen, wo sie zuerst Lektorin im Karl Blessing Verlag war, seit 2008 verantwortet sie als Programmleiterin das Literaturprogramm der Deutschen Verlags-Anstalt. Seit 2015 ist Marion Kohler zudem für die Verlagsentwicklung des neuen Penguin Verlags zuständig. Darüber hinaus übernimmt sie regelmäßig Jurytätigkeiten, u.a. war sie 2011 und 2013 in der Jury für das Literaturstipendium der Stadt München.

Ausgewählte Kandidat*innen:
Özlem Özgül Dündar
Julia Powalla
Christof Zurschmitten

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Esther Kormann

Mit welchen Erwartungen sind Sie an die open mike-Texte herangegangen?
Ich war neugierig. Es wird ja viel über die Dominanz von egozentrischen Texten bei diesem Wettbewerb diskutiert. Gleichzeitig wird immer wieder betont, dass die eingereichten Texte in den letzten Jahren immer professioneller geworden seien. Ich habe zu der Zeit, als das Paket mit den Manuskripten bei mir ankam, gerade einige Briefe gelesen, die Kafka schrieb, als er 30 war, und mir gedacht: Egozentrischer kann die Lektüre jetzt eigentlich auch nicht werden. Und: Vielleicht sollte man sich vor Augen führen, dass viele große Schriftsteller in ihren Schubladen solche Texte liegen haben. Möglicherweise steht diese Art, zu Geschichten zu finden, oft am Anfang des Schreibens und sollte diejenigen also, die die Texte für den open mike prüfen, nicht von vornherein blind machen für erzählerische Qualitäten.

Welche Kriterien haben Sie an die Texte angelegt – waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?
Je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass mir Texte am meisten liegen, die dem Dasein seinen Zauber zurückgeben, statt es zu entzaubern. Das steht für mich zugleich für eine Lebenshaltung. Eine solche Haltung hat viele Gesichter: Sie kann sich in einem humorvollen Zugriff auf die Existenz zeigen; in dem Willen, aus dem, was man erlebt – egal was es ist – immer noch eine gute Geschichte zu machen. In der Bereitschaft, sich nicht der Banalität des Daseins zu ergeben. In dem Mut, einen eigenen Weg zu gehen, vielleicht kantig zu sein in dem Erzählten und der Gedankenwelt. »Denken ohne Geländer«. Vielleicht könnte man auch sagen: Eine Lust am Widerstand. Außerdem liebe ich Texte, in denen es gelingt, das Komplizierte einfach zu erzählen. Das ist für mich eine große Kunst. All dies habe ich im Kopf, wenn ich Manuskripte für den Verlag ansehe. Und natürlich hatte ich das auch bei der Lektüre der Texte für den open mike im Kopf. Hier allerdings mit dem grandiosen Vorteil, dass ich nicht auch darüber nachdenken musste, wie viele Käufer der Roman wohl finden wird.

Was war bei der Lektüre der Manuskripte die größte Überraschung für Sie?
Meine größte Überraschung ist, dass ich seit diesem Schnelldurchlauf durch ungefähr 90 Texte viel darüber nachdenke, wie sehr man diese Texte als Spiegel unserer Gesellschaft ansehen muss. Und wo wir dann wohl stehen. Mir gehen dabei vor allem Begriffe wie: Orientierungslosigkeit, Ratlosigkeit, Kälte durch den Kopf. Ich versuche schon eine Weile einzukreisen, ob es ein Wort gibt, auf das man das so vielstimmig transportierte Lebensgefühl bringen könnte – aber es gelingt mir nicht. …
Ich hatte übrigens bei der Lektüre nicht den Eindruck, nur Texte aus Schreibschulen zu lesen. Ich habe mich eher wie bei einem Volkslauf gefühlt – mit Profis, Amateuren, blutigen Anfängern. Und das fand ich wirklich toll und beruhigend. Ich fände es äußerst schade, wenn der open mike seinen offenen Charakter verliert und das Um-sich-selbst-Kreisen des Literaturbetriebs verstärkt.
Gefreut habe ich mich, dass ich am Ende dann drei Texte gefunden habe, die für mich kein Kompromiss sind. Ich finde sie tatsächlich sehr gut, stehe hinter ihnen und bin jetzt schon gespannt, wie die Meinung der Jury ausfallen wird.

Esther Kormann
Esther Kormann

Esther Kormann, 1968 in Greifswald geboren, lebt seit ihrer Kindheit in Berlin. Sie ist Mitbegründerin des Verlags Galiani Berlin. Als Lektorin betreut sie u.a. die Romane von Sven Regener, Karen Duve, Jakob Hein, Linus Reichlin, Toni Mahoni und Nele Pollatschek.

Ausgewählte Kandidat*innen:
Demian Lienhard
Christian Mitzenmacher
Benjamin Quaderer

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Daniela Seel

Mit welchen Erwartungen sind Sie an die open mike-Texte herangegangen?
Ich halte mich lieber zurück mit Erwartungen und lasse mich dann von dem verwickeln, was mir begegnet.

Welche Kriterien haben Sie an die Texte angelegt – waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?
Ein Buch zu veröffentlichen, ist etwas ziemlich anderes, als im Kontext eines Wettbewerbes einen Ausschnitt von etwas noch in Arbeit Befindlichem zu zeigen. Insofern können die Kriterien nicht dieselben sein. Einige Fragen, die ich an Texte habe, kommen aber sicher in beiden Fällen zum Tragen: Inwieweit ist das eine Stimme, die das Potenzial hat, mir und anderen etwas zu sagen, was so in der Welt noch nicht existiert, sie aber bereichert, mir im Lesen Erfahrungen ermöglicht, die anders nicht möglich wären? Wie konsequent spricht diese Stimme von dem, was sie zu sagen hat, was riskiert sie? Von wo her spricht sie, welche Position(en) nimmt sie dabei ein, mit wie viel Eigensinn, und wie sehr gelingt es ihr, mich dahinein zu verwickeln, auch in Ambivalenzen und Ungesichertes? Inwieweit geschieht bewusste Arbeit an der Sprache (ist sie mehr als ein Werkzeug oder Mittel), am Verhältnis von Sprache und Welt, und wie feingliedrig ist das registriert?

Was war bei der Lektüre der Manuskripte die größte Überraschung für Sie?

Wie produktiv es sein kann, die eigene Stimme in Auseinandersetzung mit einer auch konkret benannten historischen Position zu entwickeln, ohne »Einflussangst«. In den eingeladenen Texten zum Beispiel die von Emily Dickinson, Pina Bausch und Francesco Petrarca.

Daniela Seel
Daniela Seel

Daniela Seel, geboren 1974 in Frankfurt/M., lebt als Dichterin und Verlegerin von kookbooks in Berlin. Daneben arbeitet sie u.a. als Kritikerin, lektoriert für andere Verlage und übersetzt, etwa Lisa Robertson und Rozalie Hirs. Zahlreiche internationale Auftritte und Kollaborationen, u.a. mit dem Illustrator Andreas Töpfer und dem Tänzer David Bloom. Daniela Seel veröffentlichte die Gedichtbände »ich kann diese stelle nicht wiederfinden«, kookbooks 2011, und »was weißt du schon von prärie«, kookbooks 2015, sowie gemeinsam mit Frank Kaspar das Radiofeature »was weißt du schon von prärie«, SWR/DLF 2015.

Ausgewählte Kandidat*innen:
Sandra Burkhardt
Lisa Goldschmidt
Marit Heuss
Cornelia Hülmbauer
Arnold Maxwill
Felix Schiller
Saskia Warzecha

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