Bereits in der Berliner S-Bahn, die mich am Freitag an den Potsdamer Hauptbahnhof bringt, denke ich darüber nach, wie man Menschen begrüßt, die man nur ein einziges Mal gesehen hat, und das an einem November-Wochenende bei schwierigen Lichtverhältnissen. Ich entscheide mich dazu, die Gestik meines Gegenübers genau zu studieren und mich wie dessen Spiegelbild zu verhalten. So kommt es, dass ich am Bahnhof Caputh Schwielowsee einige der Teilnehmenden des 24. open mike umarme, anderen zur Begrüßung die Hand gebe, und wieder andere mit »Hallo« anspreche. Dann werden wir von einer jungen Frau mit grünen Haaren abgeholt, die uns durch ein Tor auf das weitläufige Grundstück der Hotelanlage führt, in der wir bis Sonntag bleiben werden. ›Literatur und Wochenenden‹, denke ich, ›scheinen untrennbar miteinander verbunden zu sein.‹
Ich fühle mich gut vorbereitet. Die Unterkunft habe ich im Vorfeld gegoogelt und schon der erste Treffer hat mich in einen Zustand freudiger Erwartung versetzt.
›Werden die Doppelzimmers so futuristisch-visionär sein‹, frage ich mich, als ich den Gebäudekomplex vor mir auftauchen sehe, ›wie das Wort, das sie bezeichnet? Internetgewordene, fluide Gebilde, die sich ständig verändern, ohne aber jemals zu werden, was sie schon einmal gewesen sind? Räume permanenter Gegenwart vielleicht?‹ Ich hole tief Luft. ›Und das C des Congresshotels: zitiert es nicht eine Vergangenheit an, die sich aus Cigarren, Cylindern und Colonialwaren zusammensetzt?‹ Die Vorstellung lässt mein Herz schneller klopfen. ›Wie wird es dem Märkischen Gildehaus nur gelingen‹, frage ich mich, als ich die Tür zur Rezeption aufstoße, ›diese Konzepte miteinander in Einklang zu bringen?‹ Das real existierende Märkische Gildehaus ist dann ein relativ gewöhnliches Hotel, das aus Zweibettzimmern mit Fernseher und unterschiedlich großen Seminarräumen besteht.
Der Teppich im Raum mit Seeblick, in dem wir uns zu Beginn treffen, ist blau und trägt Aufdrucke, die mich an rechteckige Volleybälle erinnern. Der Reihe nach stellen sich alle Anwesenden vor und sagen, worauf sie sich freuen. Die meisten auf alles: Gespräche über Text, gute Begegnungen, Essen, Spaziergänge am See. Ich habe viel Zeit, laufe herum, esse ab und zu ein Knoppers, manchmal auch Obst. Bevor mein erstes Textgespräch stattfindet, bin ich etwas nervös. Die Abenddämmerung hat bereits eingesetzt, als ich die Treppenstufen in ein Kellergewölbe hinabsteige, in dem der Autor eines knapp 1000-seitigen Romans in vollkommener Dunkelheit an einem Tisch sitzt. Er hat das blaue Baseballcap, das ihn als Fan der Los Angeles Dodgers zu erkennen gibt, tief in die Stirn gezogen und isst ein Stück Kuchen. Vorsichtig frage ich, ob es denn okay für ihn wäre, wenn ich das Licht anmachen würde. Er nickt schweigend. Nachdem sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, erkenne ich den Ausdruck meines Textes auf der Tischplatte liegen. An den Seitenrändern hat der Autor Korrekturzeichen angebracht, deren Häufung mir als so bedrohlich erscheinen, dass ich die Dunkelheit zurückwünsche. Das Gespräch ist dann aber sehr gut. Der Autor lobt und tadelt. Dann gibt es Abendessen.
Überhaupt essen wir viel. Bei einer der unzähligen Mahlzeiten beobachte ich, wie sich die Hand einer Finalistin zögerlich auf die Hand eines Finalisten schiebt. Es sieht nicht aus, als ob es die erste Berührung der Hände wäre. ›Wahrscheinlich aber die erste in einem Umfeld wie diesem‹, denke ich, berühren sich die Hände doch so, wie es am Unangenehmsten aber auch am Schönsten ist: schüchtern. Ich freue mich, trinke zu viel Weißwein, und bin am nächsten Morgen überrascht, dass es mir dennoch gelungen ist, vor dem zu Bett gehen die App Sleep Talk Recorder zu aktivieren. Die Geräusche, die ich in dieser Nacht von mir gegeben habe, sind sehr langweilig.
Essen, Sprechen, Liegen, Essen, Spazieren, Sprechen, Essen. Das schöne an der Hotelanlage am Schwielowsee ist, dass, wann immer man sich darüber bewegt, in einem der unzähligen Zimmer Zweierpärchen zu sehen sind, die mit zusammengesteckten Köpfen Texte besprechen. Mit, ja, ›heiligem Ernst‹. Das kommt meiner Vorstellung von drei guten Tagen sehr nahe. Ab und zu spaziert man herum und beobachtet Eichhörnchen oder versucht den Hund, den ein Lektor mitgebracht hat, zu streicheln, – das soll nicht heißen, dass der Hund, den man zu streicheln versucht, unbedingt einem Lektor gehören muss, aber in diesem Fall war es halt so – liegt auf einer Matratze und liest das Internet durch, und dazwischen trifft man sich immer wieder und spricht über das, was wichtig ist: Text, Liebe, Leben. Alles halt.
Dann Sonntag. Traurigster aller Wochentage. Als ich mir die Aufnahmen der vergangenen Nacht anhöre, glaube ich, dass mein Handy kaputt ist. Frühstück. Es folgt der Vortrag einer Juristin zu Urheberrecht, und Kunstfreiheit versus Persönlichkeitsrechten, es ist schockierend. Ich bin etwas eifersüchtig, dass die Juristin in einer Kanzlei mit dem Namen Unverzagt von Have arbeiten darf, und schreibe mich in Gedanken für ein Jura-Studium an der Freien Universität ein. Dann Feedbackrunde, dann Essen, dann Schluss. Da mich die Schlafgeräusche dieser Nacht immer noch stark beschäftigen, kann ich nicht anders, als sie auf dem Weg zum Bahnhof einer Finalistin vorzuspielen. Mein Handy ist nicht kaputt. Die Finalistin sagt etwas wie: »Oh mein Gott, du zwitscherst ja wie ein Vogel.« Damit kann ich leben. Von der Vorstellung beseelt, mich im Schlaf in einen Vogel zu verwandeln, verabschiede ich mich von allen, dieses Mal mit Umarmung, und fahre zurück nach Berlin. Es ist ein schönes Wochenende gewesen.