Lektor*innen, die: drei Frauen & drei Männer, deren Job es ist, Bücher zu »machen«. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verlagen oder sind selbst Verleger*innen, sie kommen aus Berlin, Zürich, Hamburg oder Frankfurt, und arbeiten seit Jahren mit Autor*innen an deren Manuskripten, begleiten sie auf dem Weg zum fertigen Buch, sind Ratgeber und manchmal auch Freund, immer aber »erster Leser«, und das vor allem kritisch im besten Sinne des Wortes. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels stellt dazu fest: »Die Aufgaben des Lektors sind vielfältig: er ist kritischer erster Leser und Begleiter bei der Entstehung eines Werks. Der Lektor ist Korrektiv im Schöpfungsprozess, er vertritt die Sache des Autors gegenüber der Öffentlichkeit und zugleich die Interessen des Lesers.«
Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor*innen aus renommierten Verlagen dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an die Lektor*innen weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidat*innen aus.
Die ersten drei der sechs Lektor*innen des 26. open mike stellen wir euch heute vor.
Kristine Kress
Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?
Im Grunde waren es dieselben Kriterien, da ich in beiden Fällen nicht mit einem vorgefassten Anforderungskatalog an die Texte herangehe, man weiß bei Literatur ja erst dann, was man sucht, wenn man es findet. Grundsätzlich ist für mich die Stimme, der Ton entscheidend, wenn die Art und Weise, wie jemand erzählt, faszinierend ist, ist mir egal, wovon erzählt wird, das ist dann automatisch auch spannend. In einem Verlag liest man allerdings immer auch mit dem Verlagsprogramm und der Frage nach den möglichen Leser*innen im Hinterkopf, bedenkt also mit, wie sich ein Text zu den anderen Texten verhält, die bereits zur Veröffentlichung bestimmt sind, und wie – oder auch ob – es uns gelingen kann, für den Text Leser*innen zu finden, die genauso begeistert sind wie wir. Diese Fragen sind beim open mike natürlich weggefallen.
Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Ehrlich gesagt hat mich die hohe Qualität der Beiträge überrascht, ich hatte mit einer geringeren Zahl an Texten gerechnet, die mir die Entscheidung schwer machen. Und so richtig schlecht war auch keiner der Texte, es gab eigentlich bei jedem etwas, das mir gefallen hat, selbst wenn er es nicht in die engere Auswahl geschafft hatte. Auch das Themenspektrum und die stilistische Bandbreite waren überraschend breit.
Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Da ist natürlich etwas Vorsicht geboten bei der Frage, denn zum einen bin ich mir nicht sicher, ob ich tatsächlich die gesamte Gegenwartsliteratur im Blick habe, und außerdem kann es zum anderen ja auch sein, dass nicht die Literatur selbst, sondern mein Blick darauf sich geändert, sich mein Interesse verlagert hat (ich neige sehr zu dieser Annahme). Trotzdem würde ich mal diese These raushauen: Es kommt mir so vor, als seien in den letzten Jahren mehr Texte unterwegs, die sich intensiv mit den gesellschaftlichen und politischen Fragen unserer Zeit auseinandersetzen, klar, es werden immer noch sehr viele Geschichten vom Aufwachsen, von der Familie, von Liebe und Tod, den großen Themen eben, geschrieben, wie auch nicht, aber mir fällt schon auf, dass auch diese Texte immer genauer auf die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen schauen, unter denen all das stattfindet, und dass auch Randbereiche der Gesellschaft und Entwicklungen, die als bedenklich und bedrohlich wahrgenommen werden, verstärkt in der Gegenwartsliteratur auftauchen. Auffällig finde ich auch die vielen Dystopien, die international, aber auch in Deutschland erscheinen, vor einigen Jahren waren darin häufig ökologische Katastrophen Thema, jetzt sind es oft – in der Tradition von Margaret Atwood – extrem misogyne Gesellschaften, die beschrieben werden. Es kann aber, wie gesagt, auch sein, dass das die Texte sind, die mir jetzt besonders auffallen, weil mich interessiert, was die Literatur zu den gegenwärtigen Fragen zu sagen hat.
Was wünschen Sie sich für die (deutschsprachige) Literatur der kommenden Jahre?
Ich möchte Texte lesen, die mich überraschen, amüsieren, verstören, erhellen, bewegen, erschüttern, begeistern, erkennen lassen, die mich nachdenklich, traurig, wütend oder kämpferisch stimmen und die mich auch unterhalten. Muss nicht alles gleichzeitig sein. Ich würde das allerdings nicht als Wunsch an die Literatur formulieren, Literatur ist ja nicht zur Wunscherfüllung da. Die Literatur soll mal in Ruhe die Texte hervorbringen, die geschrieben werden müssen, und wenn sich dabei zufällig einer meiner Wünsche erfüllt, ist das doch wunderbar.
Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten Schriftsteller*innen?
In der reinen Textarbeit unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen eigentlich nicht von der mit etablierten Autor*innen, jeder Text ist wieder ein neuer Text und die Eigenheiten des Textes und die spezifischen Herausforderungen bestimmen den Grad der Intensität des Lektorats. Wie groß das Bedürfnis nach Ansprache und Betreuung bei diesem Prozess ist, scheint eher eine Typfrage zu sein, das hat nach meiner Erfahrung nicht so viel mit dem »Dienstalter« zu tun, ich stelle mich da jeweils auf den Autor oder die Autorin ein. Unterschiede zwischen jungen und etablierten Autoren gibt es vor allem bei den administrativen Abläufen, da sind die erfahreneren Autoren natürlich schon mit vertraut und wissen, wie die verlagsinternen Wege so gehen mit Vorschauankündigung, Covergestaltung, Klappentexten, gegebenenfalls Marketing- oder Pressestrategie, bei jüngeren Autor*innen erklärt und redet man da mehr. Und nach der Veröffentlichung kommt dann für alle der Moment, wo sie loslassen und sich der rätselhaften Dynamik des Buchmarkts überantworten müssen, und das ist bei einem Debüt bestimmt ganz besonders aufregend, aber so richtig Routine wird das wohl nie, auch für Lektorinnen und Lektoren nicht. Zum Glück.
Kristine Kress ist Lektorin für deutsche und englischsprachige Literatur. Sie hat in Köln und Prag Germanistik, Indonesische Philologie und Philosophie studiert. Nach Stationen bei Tropen, Dumont, Kiepenheuer & Witsch und S. Fischer ist sie seit 2009 bei den Ullstein Buchverlagen tätig.
Ausgewählte Teilnehmer*innen:
Astrid Ebner
Felix Krakau
Olivia Meyer Montero
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Patrick Sielemann
Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?
Um ehrlich zu sein, war das Lesen textorientierter. Im Verlag steht natürlich ebenfalls die literarische Qualität im Vordergrund, gleichzeitig spielt aber auch eine entscheidende Rolle, welche Chancen der Text auf dem Markt haben würde. Man beschäftigt sich mit der Person des Autors, mit Konkurrenzanalyse, mit ersten Marketingideen etc. Dieser ganze Komplex fiel bei der Auswahl für den open mike weg, was ich als Abwechslung recht erfrischend fand.
Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Ich war positiv überrascht von der durchschnittlichen Qualität. Fast jeder dieser Texte war, handwerklich gesehen, recht sauber. Richtig geflasht haben mich am Ende aber doch nur wenige Einsendungen, nämlich die, bei denen neben einem Gefühl für Sprache auch ein Sinn für Figuren, Strukturen und Stoffe zu spüren war.
Was wünschen Sie sich für die (deutschsprachige) Literatur der kommenden Jahre?
Mehr Mut. Ich bin ein Fan des angelsächsischen Erzählens, des komplexen Romans mit vielschichtigen Figuren, der sich aber nicht dafür schämt, zugänglich zu sein und zu unterhalten. Die elende Unterscheidung zwischen »ernster« und »unterhaltsamer« Literatur, die immer noch durch viele Köpfe schwirrt, ist nicht mehr zeitgemäß, genauso wie die Gleichsetzung von »schwierig« und »bedeutungsvoll«. Einen anspruchsvollen Roman zu schreiben, der trotzdem den Leser im Blick behält, ist in meinen Augen eine viel größere Kunst als ein stiller, selbstreferentieller Text über irgendeine Identitätskrise. Und er erreicht in der Regel auch mehr Leser. Ich würde mir wünschen, dass diese Form der (deutschsprachigen) Literatur mehr ausprobiert, aber auch mehr gefördert wird und mehr Anerkennung erhält, sei es im Feuilleton oder bei bedeutenden Buchpreisen.
Patrick Sielemann, geboren 1982, ist nach Stationen bei den Literaturagenturen Blake Friedmann und Liepman sowie beim Unionsverlag seit 2012 Lektor bei Kein & Aber. Dort betreut er die deutschsprachige und internationale Belletristik und verantwortet zudem das Taschenbuchprogramm.
Ausgewählte Teilnehmer*innen:
Eva Raisig
Lennart Schaefer
Marina Schwabe
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Katharina Picandet
Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?
Bei den Kriterien für die open mike-Texte war ich viel freier! Bei einer Auswahl für den Verlag habe ich immer viel stärker unser Programmprofil im Hinterkopf, weitere bereits in Planung befindliche Projekte, den Anspruch, mit anderen Titeln ein gut komponiertes Halbjahresprogramm zusammenzustellen, das auch zur Zeit passt. Da ist mein persönlicher Geschmack und meine Begeisterung für einen Text nur eines von mehreren Kriterien. Hier für den open mike habe ich nur darauf geachtet, dass der Text inhaltlich überzeugt, also auf der kurzen Textlänge doch irgendeine Art von Bogen und Pointe hat, überraschende Wendungen, interessante Figuren. Sprachlich sollte er dem Sujet angemessen sein, stilsicher, klischeefrei, aber auch nicht zwanghaft originell. Und dann habe ich »meine Drei« doch auch so ausgewählt, dass ich einen ernsthaften, einen eher lustigen und einen melancholisch-humorvollen Text hatte … Als die Autorennamen hinter den Nummern der Texte enthüllt wurden, habe ich mich gefreut, dabei nicht zufällig nur drei Männer oder nur drei Frauen ausgewählt zu haben!
Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Mich hat überrascht, dass manche Themen recht gehäuft auftraten, von denen ich es nicht unbedingt erwartet hätte. Z.B. hatte ich in meinem Text-Konvolut mehrere Texte über Abtreibung, das hat mich verblüfft. Ich meine, es ist ein wichtiges Sujet, aber dass das in der kurzen Form behandelt wird, und auf recht unterschiedliche Weisen? Erstaunlich! Es gab auch mehrere über den Vater des Erzählers oder der Erzählerin, einige, die mit einer schwierigen Ankunft an einem unbekannten Ort begannen, zum Beispiel. Ich war fast versucht, ein Medley zusammenzustellen aus den ersten Sätzen, weil sich manche doch erstaunlich ähneln oder geradezu aufeinander antworten, aber zu solchen interessanten Sachen hat man dann ja doch nie die Zeit …
Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Ach, das ist immer so eine schwierige Frage, die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist ja nun wirklich ein sehr weites Feld. Ich finde gut, wenn sich politische Debatten in der Literatur widerspiegeln, ohne dass es platt und vereinfachend ist oder einfach nur irgendwelche Figuren gepflegt über diese Themen reden. Und ich habe schon den Eindruck, dass es auch vermehrt solche Texte »von Gewicht« gibt, die Position beziehen, vielleicht auch mal eine unbequeme. Autorinnen und Autoren, die trotzdem auch die Literatur als Handwerk, als Kunst ernst nehmen und auch der Leserschaft zutrauen, kompliziertere und längere Texte zu lesen, sich an ihnen abzuarbeiten vielleicht, wenn es sich lohnt, und die nicht jedem etwas ungewöhnlichen Bild gleich die Erklärung hinterherschieben, wie das jetzt bitte zu verstehen war. Ein Roman ist kein Blindenhund, wie Frank Witzel vor sehr langer Zeit mal gesagt hat!
Was wünschen Sie sich für die (deutschsprachige) Literatur der kommenden Jahre?
Es war keine Absicht, aber ich glaube, diese Frage habe ich mit Frage drei mitbeantwortet…
Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten Schriftsteller*innen?
Ich finde nicht, dass sich die Arbeit wesentlich unterscheidet. Wenn man schon länger zusammengearbeitet hat, kennt man einander und kann gleich etwas schneller einsteigen in die Arbeit am Text. Vielleicht – das müssten die Autorinnen und Autoren sagen – hören diese sogar schon beim Schreiben die innere Stimme des Lektors, der immer wieder dasselbe sagt? Aber es geht immer darum, den Text zu verstehen, Rückmeldung zu geben als Leser (Lektor!), wie der Text angekommen ist, wie er funktioniert hat, was er kann und will. Und dieses Gespräch hängt viel mehr vom Text ab als von der Erfahrung seines Autors oder seiner Autorin. Neue Bücher in die Presse und in die Literaturhäuser zu bringen, das ist natürlich einfacher mit etablierten Schriftstellern, die die Leute schon kennen.
Katharina Picandet, geboren 1974, studierte Deutsche Sprache und Literatur, Geschichte und Philosophie in Hamburg und Bordeaux. Seit 1996 ist sie bei der Edition Nautilus; seit 2003 als Lektorin, 2016 wurde sie Verlegerin.
Ausgewählte Teilnehmer*innen:
Rebekka Greifenberg
Demian Lienhard
Erik Wunderlich