Mit der folgenden Keynote eröffnete Jan Böttcher die Autor*innenworkshops »Gesellschaftliche Debatten und literarisches Schreiben«, die im Rahmen des 26. open mike stattfand.
Mehret die Sprachen, wehret der Glaubwürdigkeit
Wir bemühen gerade in künstlerischen Zusammenhängen gern die Formel 1+1=2+x oder sogar 1+1=3; dass also die Summe mehr ist als die Einzelteile, so wie eine Band nicht aus vier Solist*innen besteht. Und nun darf man sich im (zumindest künstlerisch legitimen) Umkehrschluss fragen: Löst sich eine Band auf, bleiben dann vier Einsen zurück, oder erniedrigt sie die gemeinsame musikalisch-soziale Enttäuschung zu einem »weniger als 1«? Hält eine Gesellschaft aus 80 Millionen Menschen nicht mehr zusammen, wiegen ihre Einzelteile dann eventuell sogar weniger als 1?
Einigen wir uns darauf, dass es veränderte Druckverhältnisse gibt. Druck heißt natürlich in erster Linie: Wandel. Das Magazin DER SPIEGEL veröffentlicht ein 20seitiges Dossier, indem es die Me-Too-Debatte im eigenen Haus untersucht. Eine rühmliche Ausnahme, denn ansonsten werden die Filme der Emanzipation rückwärts abgerollt. Backlash oder: die von vielen Historikern vorhergesehene Re-Aktion auf den russischen Systemcrash und die 89er-Öffnungen, die nicht zuletzt auch Grenzöffnungen waren. Sprachwandel, dem Denkwandel nachkommt. In Ungarn wird das Universitätsfach Gender Studies verboten. Der türkische Präsident schimpft uns Deutsche alle Nazis. Eine Hirnforscherin will zeigen, dass Empathie erlernbar ist – aber ausgerechnet sie mobbt dabei ihre Mitarbeiter*innen. Eine Jagdhundkrawatte und ihr Vogelschiss. Der amerikanische Präsident wird in täglichen Lügen gemessen und gewogen.
Es ist viel Denkfaulheit in der Welt und Erschöpfung an der Zivilisation. Eine Frage ist: Was machen die (einfachen, dummen, faulen falschen, populistischen Sprachkörper und ihre oft ja durchaus smarten, aufschlussreichen Erwiderungen, die auch), was machen all diese Sprachkörper mit uns, die aus Debatten, in der digitalen Alltagssprache, zusammengestellt durch die Filter des/der Anderen auf uns wirken – schüchtern sie uns ein, werden wir sie noch los, wie lange hallen sie nach in den immer zu wenigen Stunden, in denen wir uns ausklinken und etwas GANZ EIGENES LITERARISCHES schaffen wollen? Nutzen wir unsere literarische Freiheit, oder ist diese Freiheit eine Utopie ohne Marktwert, schreiben wir schon nur noch an einem einzigen Text, der mal öffentlich ist und mal Manuskript sich nennt? Werden wir einsprachig, und wäre das hilfreich, weniger anstrengend? Wie weit ist der Weg von einsprachig zu einsilbig?
Die komplette Keynote könnt ihr im Logbuch Suhrkamp lesen.