Ich habe mich manchmal gefragt, ob es die nicht vorhandenen Väter waren, die uns verbanden. Ich glaube allerdings, es waren unsere Mütter.
Mütter mit nie schwindenden Augenringen, die nach fremdem Putzmittel rochen und nach billigem Desinfektionsspray.
In dem Sommer, in dem ich Arno kennenlernte, waren wir gerade umgezogen. Papa war erst seit wenigen Monaten tot und Mama nahm alle Stellen an, die sie kriegen konnte. Sie verbrachte ihre Tage in einem Altersheim und ihre Nächte bei einer Frau mit Parkinson. Es hieß Schichtdienst und sehr bald kaufte sie eine Mikrowelle, damit ich mir das Essen aufwärmen konnte, das sie mir aus dem Heim mitbrachte. Ich verlangte Fattousch und sogar Ful, obwohl ich das noch nie gemocht hatte. Mama sah mich aus müden Augen an und schwieg. Nie wieder habe ich so weißen Kartoffelbrei gegessen und so blasse Erbsen, so weiche Möhren und so zähes Fleisch wie in diesem Jahr, in dem ich schließlich Arno traf.
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Ich hasse Vereine, sagte Arno und schleifte seine Sporttasche durch den Staub hinter sich her.
Ich hasse Vereine und Fußball hasse ich übrigens auch, falls es dich interessiert, das ist das letzte Mal, das ich mitkomme.
Ich sagte nichts. Arno erzählte mir da was, was er eigentlich seiner Mutter erzählen sollte. Sie hatte ihn angemeldet, sie war der Meinung, Fußball sei ein guter Sport für Jungs in unserem Alter und ich konnte ja auch nichts dafür, dass sie blind für Arnos Sporthass war.
Ich schwör, die wichsen in der Dusche um die Wette, sagte Arno düster, und wer nicht mitmacht, wird mit dem Handtuch geschlagen oder muss nen Stiefel exen oder sowas.
Ich grinste. Ich hatte keine Ahnung, woher Arno solche Ideen nahm. Wahrscheinlich aus einem der vielen Filme, die er andauernd guckte.
Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm, sagte ich und Arno schnaubte verächtlich.
Der Trainer war ein Mann um die vierzig. Er hatte nicht den Ansatz eines Bauches und er hatte keinen Vokuhila, wie Arno befürchtet hatte.
Meinst du, der legt sein Goldkettchen vor jedem Training ab, flüsterte Arno mir zu und rollte mit den Augen. Oder hat er das unter seinem Unterhemd versteckt?
Nee, flüsterte ich zurück. Ich glaube, der hat gar keins.
Unmöglich, erwiderte Arno. Ohne Goldkettchen kein Trainerschein, das weiß doch jedes Kind.
Der Trainer pfiff auf seiner Trillerpfeife und wir trabten los, im Kreis um eine matschige Wiese herum und weil Arno sich auf seine Atmung konzentrieren musste, war es eine ganze Weile still neben mir.
Das Laufen tat mir gut. Je höher mein Puls schlug, desto mehr schien es, als würde etwas in dicken Schichten von mir abfallen, wie eine Hülle aus Lehm, die mich unbemerkt umgeben hatte.
Arno neben mir atmete schwer. Aus den Augenwinkeln konnte ich zusehen, wie er jede Sekunde blasser wurde.
Das beste am Fußball war, dass Emre und Cem aus der Türkei kamen und Salah aus Marokko und Milan aus Serbien.
Das schlechteste war, dass Arno es nach wie vor hasste.
Wir sind doch zu klug dafür, sagte er jedes Mal, wenn wir uns auf den Weg machten und sah mich verzweifelt an, wir haben doch besseres zu tun als Liegestütze im Schlamm und Trillerpfeifendiktatur und stinkende Lätzchen tragen.
Ich schwieg. Ich musste nichts sagen, Arno wusste auch so, dass ich Fußball liebte.
Weißt du, sagte Arno, meine Mutter beschwert sich über alles, was Arbeit macht, aber wenn ich die Trikots nach Hause bringe, dann sagt sie nichts, das ist scheinbar in Ordnung, die klebrigen Trikots von fremden Jungs waschen, das passt gut in ihr Konzept von Mutterschaft.
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Ich habe keine Ahnung, ob Arno schön ist oder nicht. Erst vor Kurzem ist mir das aufgefallen.
Blasse Haut, fast durchscheinend in hellem Licht, vereinzelte Sommersprossen. Hellbraune Haare, die ihm feucht in die Stirn fallen. Keine Muskeln, kein Gramm Fett. Arno nackt löst bei mir Zärtlichkeit aus und eine unbestimmte Abwehr zugleich.
Sein Gesicht dagegen kann ich stundenlang anschauen, besonders dann, wenn er schläft. Wenn sich seine Gesichtszüge entspannen, das Gehetzte verschwindet, die Augen nicht suchend umherirren. Wenn nicht Arnos Worte und seine Bewegungen alles übertönen.
Arno hat weiche Lippen. Frauenlippen, sagte Timo aus der Klasse drüber und Arno knallte ihm eine. Einen etwas zu vollen Mund also und eine schiefe Nase, aber das mit der Nase war nicht schon immer so, auf dem letzten Klassenfoto zum Beispiel noch nicht. Seine Augen sind grün oder grau, je nach Lichteinfall und ich habe auch schon gelbe Sprenkel darin gesehen. Versprengte Sterne, sagte Arno, als wir uns einmal im Spiegel betrachteten.
Das sind versprengte Sterne und deshalb werde ich Astronaut.
Während wir bei Arno also versprengte Sterne fanden, waren meine Augen von einem so eintönigen Braun, dass auch Arno nichts Einzigartiges darin entdeckte.
Ehrliche Augen, Bruder, sagte er und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. Keine Geheimnisse darin, Nada, und das ist was Gutes.
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In Arnos Zimmer ist es dunkel. Die Rolläden sind fast vollständig heruntergelassen, nur durch wenige Ritzen fällt Sonnenlicht herein und wirft verstohlen Muster auf die Tapete. Es dauert eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, deshalb nehme ich zuallererst den Geruch wahr: alte Socken und aufgeweichte Haferflocken. Durchatmete Luft. Arnos Matratze liegt neben dem Bettkasten, darauf am Fußende zusammengerollt Arno. Er bewegt sich nicht, als ich hereinkomme, aber ich kenne seinen unruhigen Schlaf und weiß deshalb sofort, dass dass er wach ist.
Mit einem Knall schlage ich auf den Lichtschalter.
Überraschung, Alter, rufe ich mit einer Stimme, die sich fast überschlägt vor gespielter Begeisterung.
Arno öffnet ein Auge, linst zu mir herüber und dreht sich auf die andere Seite.
Neben seiner Matratze stehen mehrere Gläser, unterschiedlich voll mit milchig abgestandener Flüssigkeit.
Durch das weiße T-Shirt zeichnen sich seine Rippen ab. Ich könnte schwören, Arno ist noch dünner als vor ein paar Wochen.
Ich lasse mich neben ihn auf die Matratze fallen. Liege da, berühre mit meinem Arm fast seinen Rücken und starre an die Decke. Über seinem Bett sind mehrere unterschiedlich große Löcher im Putz zu erkennen. Die Leuchtsterne, denke ich.