Die Lektor*innen des 28. open mike | Teil 2: Friederike Schilbach, Katrin Kroll und Helge Pfannenschmidt

Lektor*innen, die: sechs Personen, deren Job es ist, Bücher zu »machen«. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verlagen und Literaturagenturen, sie kommen aus Berlin, Wien, Köln oder Göttingen, und arbeiten seit Jahren mit Autor*innen an deren Manuskripten, begleiten sie auf dem Weg zum fertigen Buch, sind Ratgeber*in und manchmal auch Freund*in, immer aber »erste*r Leser*in«, und das vor allem kritisch im besten Sinne des Wortes.

Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor*innen aus renommierten Verlagen – und in diesem Jahr auch aus einer Literaturagentur – dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an die Lektor*innen weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidat*innen aus.

Die ersten drei der sechs Lektor*innen des 28. open mike haben wir euch hier bereits vorgestellt, nun folgen die weiteren drei.


Friederike Schilbach

© James Johnston

Welche Kriterien haben Sie an die Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Ich bin erst mal mit großer Offenheit ans Lesen gegangen, habe in dem Stapel nach Texten geschaut, die einen eigenen Ton, eine eigene Stimme haben, mich überraschen, herausfordern, begeistern, im Kopf bleiben. Die Form ist natürlich eine andere als bei den Manuskripten, die ich für den Verlag lese, die open-mike-Texte haben ja nur ein paar Seiten und werden vor Publikum vorgetragen. Aber grundsätzlich glaube ich, dass jeder Text so etwas wie seine eigenen Kriterien mit sich bringt und man sie nicht nur von außen anlegen kann.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Es waren viele dringliche Stoffe dabei, viele Texte kreisten um Themen wie soziale Ungleichheit, Ausgrenzung, Sexismus, Gewalterfahrungen.

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Ich mag den Zauber des ersten Buches, die Verve und Hingabe, mit der junge Autor*innen schreiben, ihren Blick auf die Welt, wenn sie so entschieden und mutig alles in die Waagschale werfen. Ist immer ein großes Glück, wenn man jemanden dabei begleiten darf, ein Debüt auf den Weg zu bringen.


Friederike Schilbach (geboren 1980) ist nach Stationen beim Berlin Verlag und S. Fischer heute Leitende Lektorin beim Aufbau Verlag in Berlin. Sie hat Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und arbeitet mit Autor*innen wie Cemile Sahin, Ilona Hartmann, Katja Eichinger, Etgar Keret und Sigrid Nunez.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Sebastian Gaub
Rebecca Gisler
Josefine Soppa

**

Katrin Kroll

© privat

Welche Kriterien haben Sie an die open-mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl in der Agentur heranziehen?

Die wichtigsten Fragen waren für mich: Überrascht mich der Text? Berührt er mich? Hat er eine Relevanz? Und: Hallt der Text auch mit zeitlichem Abstand noch nach, hat die Lektüre Spuren hinterlassen?

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Überrascht hat mich der kluge und spannende Blick, den einige Texte auf unsere Gesellschaft und in die Zukunft werfen. Was die Tendenzen betrifft: Ich habe viele Texte gelesen, die im Hier und Jetzt spielen, der Tod war ein häufiges Sujet, ebenso Beziehungskonflikte und Trennungen.

Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Das kann ich pauschal schwer sagen. Vielleicht eine Hinwendung zur deutschen Zeitgeschichte, zum Thema Familie, zur so genannten Autofiktion. Mir scheint auch, dass die Diversität der Themen und Lebensrealitäten etwas zugenommen hat – auch wenn ich glaube, dass da noch sehr viel mehr geht.

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Die gemeinsame Begeisterung für den Text, der intensive Austausch und die spannende Ungewissheit, welchen Weg Text und Autor*in und auch wir gemeinsam noch gehen werden.

Inwiefern könnte die derzeitige Corona-Pandemie Einfluss auf die literarischen Debüts der kommenden Jahre haben?

Ich befürchte, dass die Programmplätze für literarische Debüts durch Corona schrumpfen werden, und hoffe zugleich sehr, dass Verlage, Literaturkritik und Buchhandel sich weiterhin mit Kontinuität und Leidenschaft dafür einsetzen, dass junge Autor*innen veröffentlicht, diskutiert, gelesen werden.


Katrin Kroll (geboren 1982) studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie. Sie ist seit zwölf Jahren Agentin für Literatur und Sachbuch, seit 2012 bei der Agentur Petra Eggers.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Dominik Haitz
Thea Mengeler
Lynn Takeo Musiol & Eva Tepest

**

Helge Pfannenschmidt

© Sascha Kokot

Welche Kriterien haben Sie an die open-mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Ich habe schon differenziert zwischen den Kriterien, die mich bei meiner Arbeit mit der edition AZUR leiten, und denen, die ich an die Wettbewerbstexte anlege. Natürlich sucht man immer das Überraschende, das man so noch nicht gelesen hat, und natürlich spielt auch handwerkliches Können eine Rolle. Aber mir war es auch wichtig, dass die ausgewählten Beiträge die Lebendigkeit und Vielstimmigkeit des Genres abbilden. Und da gilt für mich der Grundsatz: Im Zweifel immer für die mutigere Variante.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Ganz klar: eine neue Ernsthaftigkeit – und das sage ich jetzt mal, ganz ohne zu werten, ob das gut oder schlecht ist. Im Vergleich zu »jungen Texten« von vor fünf oder zehn Jahren findet man kaum noch einen ironischen Blick auf die Welt, wenig Spielerisches, und auch die Zeit der idiosynkratischen Nabelschau ist abgelaufen. Stattdessen: ein großes Interesse daran, schreibend zu erkunden, durch welche Umstände man zu dem Menschen geworden ist, der man ist. Deutlich spürbar bei den Lyrikeinsendungen ist zudem die Nähe zu Spoken Word und Lesebühne.

Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Um mal auf den diesjährigen Buchpreis Bezug zu nehmen: Von dieser Shortlist würde ich am liebsten jedes Buch lesen. Ich erinnere mich gut an Jahre, in denen mich kein einziges angesprochen oder neugierig gemacht hat. Die Literaturlandschaft ist politischer, die Biografien der Autor*innen sind diverser und die Genregrenzen durchlässiger geworden.

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Für mich ist dieses erste Stück Weg, das man gemeinsam geht – sei es bei der Arbeit an einem Debütband oder bei der intensiven Textarbeit im Rahmen eines Workshops – das Spannendste. Ich mag die Intensität des gemeinsamen Arbeitens, den Mangel an Routine und Berechnung, die Unverstelltheit und das zum Teil anarchische Potenzial vieler Texte. Und natürlich ist es eine beglückende Erfahrung zu sehen, wie in wenigen Jahren aus Talenten gestandene Autor*innen werden.

Inwiefern könnte die derzeitige Corona-Pandemie Einfluss auf die literarischen Debüts der kommenden Jahre haben?

Wie die Pandemie das Schreiben beeinflusst, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehen. Die thematisch explizit auf Corona Bezug nehmenden Texte – und von denen gab es auch in den Lyrik-Einreichungen nicht wenige – finde ich bisher wenig ergiebig. Sie haben dem, was man selbst erlebt hat, wenig hinzuzufügen, und sowieso sind alle des Themas überdrüssig. Wahrscheinlich ist es dafür einfach zu früh.
Viel spannender wird es sein, wie die sich ändernden gesellschaftlichen/wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Publikation und Rezeption verändern. Wird es künftig noch Buchmessen geben? Wie beeinflusst die Krise die Risikofreudigkeit der Verlage (und damit auch die Programmplätze für Debüts)? Wie viele Veranstalter und Literaturvermittler werden in den kommenden Monaten noch auf der Strecke bleiben? Und welche neuen (digitalen?) Optionen eröffnen sich dadurch?


Helge Pfannenschmidt (geboren 1974 in Neuhaus am Rennweg) studierte Germanistik und Sprechwissenschaft / Phonetik in Jena und an der University of Kent in Canterbury. Seit 2004 arbeitet er als Freier Lektor, Verleger und Workshopleiter (u. a. für das Junge Literaturform Hessen-Thüringen). 2005 gründete er die edition AZUR, einen auf Lyrik und kurze Prosa spezialisierten Independent-Verlag mit Sitz in Dresden. Seit 2020 führt der den Verlag unter dem Dach von Voland & Quist weiter. Zudem verantwortet er seit 10 Jahren das Programm des Festivals »Literatur JETZT«.

Ausgewählte Teilnehmer*innen

Nail Doğan
Eva Kissel
Sophia Klink
Frieda Paris
Felix Reinhuber


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