Um sich mit Daniel Jurjews Erzählung »Borges und Eis« auseinanderzusetzen, lohnt sich zunächst eine kurze Beschäftigung mit den zwei Pfeilern der Geschichte: Jorge Luis Borges und Matcha-Eis.
Jorge Luis Borges war ein argentinischer Schriftsteller und Bibliothekar. Er gilt als der Mitbegründer des Magischen Realismus und er verfasste etliche phantastische Erzählungen. Auf Wikipedia steht (und wir müssen uns hier an Wikipedia halten, denn bei einer Livekritik hat man keine Zeit für eine längere Recherche):
»Borges wählte für seine Werke immer eine kurze Form: wenige seiner Texte sind länger als zehn oder fünfzehn Seiten. Seine Prosa ist immer dicht, gewählt, treffend, stilistisch vornehm und ohne jedes überflüssige Wort. Er vertrat die Theorie, dass auch Unterhaltungsliteratur literarisch wertvoll sein kann.«
Und zum Thema Matcha-Eis, da muss man nicht viel sagen, es sieht so aus:
Doch wie harmonieren japanisches Matcha-Eis und der argentinische Schriftsteller in einem Text? Kann das passen? Oder ist es eher so, wie wenn man Matcha-Eis mit Schokoladeneis mischt? (Denn das würde nicht passen!)
Daniel Jurjew macht das spielerisch möglich. Man muss seinem Text nicht glauben, hier wird uns suggeriert, etwas Alltägliches erzählt zu bekommen, das dann ins Magische abdriftet. Dabei ist das Verlieren der Realität wohl komponiert.
Ein äußerst sympathischer junger Mann geht in Frankfurt in ein Eiscafé, welches von einer argentinischen Wirtin betrieben wird, die selbst Borges bedient haben soll. Auf der Eiskarte entdeckt der Ich-Erzähler Matcha-Eis, welches er aber spontan nicht bestellt. Er nimmt sich vor, bei einem späterem Eiscafé-Besuch diese Sorte zu probieren. Doch bei den nächsten Besuchen steht diese Sorte nicht mehr auf der Karte. Als er eines Tages wieder kein Matcha-Eis bekommt und kurzzeitig niemand in der Küche des Eiscafés zu sehen ist, schleicht er sich hinein und öffnet eine Schranktür. Bis hier hin ist man vergnügt beim Lesen dabei. Man möchte erfahren, ob der Erzähler endlich Matcha-Eis probieren wird, oder nicht. Aber die Brücke muss zu Jorge Luis Borges gezogen werden und so ist der Schrank kein Schrank, sondern eine Kellertür und im Keller befindet sich der argentinische Schriftsteller höchstpersönlich, selig Matcha-Eis löffelnd.
Borges lachte. »Aber sicher haben Sie das. Wahrscheinlich möchten Sie wissen, wie es mich hierher verschlagen hat? Buenos Aires, Genf, Frankfurt – die St.dte überlappen sich, und was soll ich dann erst darüber sagen, wann und wie ich von wo wohin gekommen bin? Ich muss gestehen, dass die Ereignisse keine feste Reihenfolge oder Gestalt mehr für mich haben, sondern sich immer wieder vermischen und neu teilen.« Er sprach mit starkem Akzent, der neben dem Spanischen auch eine französische Färbung hatte. «Sehen Sie, wenn man alt ist, noch dazu deutlich länger auf dieser Welt verweilt, als wir es gemeinhin vorausberechnen, steht man anders im Fluss der Geschichte.«
Ist es albern? In keinster Weise. Es ist Literatur, die man gern liest, weil hier mehrere Leidenschaften aufeinanderstoßen, ohne dass es unstimmig wirkt. Es überrascht, es fasziniert und man schmunzelt vor sich hin, wünscht sich beim Lesen eine Kugel Eis herbei.
Jurjews Können liegt aber nicht nur in der dramaturgischen Darbietung, sondern auch in der Charakterzeichnung. Die Schüchternheit des Ich-Erzählers, das Sehnsuchtsvolle und Respektvolle, das sich in den Dialogen mit Borges herauskristallisiert – man möchte sich gern mit dem Ich-Erzähler auf eine Kugel Eis treffen. Auch weil er mit der Weltliteratur bewandt ist, ohne das groß zeigen zu müssen. Und auch die Charakterzeichnung von Borges macht Freude. So sehr, dass man sich fragt, ob Borges auch Freude mit Jurjews Text gehabt hätte.
Daniel Jurjew ist ein feinsinniger Erzähler. Und wir bleiben gespannt darauf, von welchen Eissorten und Schriftsteller*innen er uns in Zukunft auf so gekonnte Art berichten wird.