Virginia Brunn: Sie sagten Tschernobyl

Virginia Brunn liest ihren Text klar und bedächtig. Man möchte ihr lange zuhören, man verliert sich in das trostlose Szenario, das sie ausmalt. Wobei, und das ist klar, es sind mehrere Szenarien, die sie in diesem Romanauszug schildert. Wir folgen der Ich-Erzählerin von Stuttgart, nach Chemnitz, nach Tschernobyl, nach Köln und wieder nach Stuttgart. Das ist ein ziemliches Hin und Her aber das macht nichts, denn wir bleiben bei der Ich-Erzählerin, die mutig und reflektiert von ihrer Körperlichkeit und ihren Gedanken erzählt.

Im Zittern verschiebt sich mein Ja, ich packe ihren Arm unbeholfen, sie mich fest und führt mich ins Sitzen. »Schau noch nicht in den Spiegel«, haben sie gesagt, »das wird dich nur erschrecken.«

Wie geht man damit um, wenn der Körper nicht so ist, wie man ihn sich wünscht? Wie ist das, wenn man auf die Pflege anderer angewiesen ist? Wie fühlt sich Scham an? Oder die Sehnsucht nach Normalität? Und was ist, wenn das zwar alles schon existenziell ist, aber im Hinterkopf zusätzlich die grundlegenden Fragen der eigenen Herkunft pochen? Woher komme ich? Wer waren meine Eltern vor meiner Geburt? Brunn liefert keine Antworten, zumindest keine klaren. Denn ihre Protagonistin ist selbst auf Entdeckungstour, wir sind dabei, wie ihr Dinge widerfahren und es ist noch zu früh, das zu reflektieren und auf all diese Fragen Antworten zu liefern.

Es ist ein uneindeutiges Memoir, das uns hier geboten wird. Es ist auch fraglich, ob es als Auszug funktioniert, denn, so sehr einen die Fragen auch innerlich treffen, so sehr möchte man mehr Ansätze bekommen, und weiter auf Entdeckungstour gehen. Doch das leichte Wirrwarr ist erträglich, weil die Stärke und Sanftheit der Ich-Erzählerin fasziniert.

Ich hoffte auf jemanden, für den ich Frau war, weder Patient noch Kind, der mich anders ansah. Doch es waren Krankenschwestern, Pfleger manchmal, meine Großmutter oder meine Mutter, die mich wuschen und mir abtrainierten, Scham darüber zu empfinden.

Es sind starke und eben sanfte Beobachtungen, die erzählt werden. Es ist eine dichte Sprache, die nicht viel braucht, die in all der Zerbrechlichkeit der Geschehnisse selbstbewusst daherkommt. Doch es bleibt das Gefühl der Beklommenheit. Man wünscht der Protagonistin, dass sie ankommt, zwischen all den Orten, die sie uns erzählt. Und man wünscht sich, mehr von diesem leisen aber faszinierenden Romanauszug zu lesen.

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