Die Lektor*innen des 29. open mike | Teil 1: Annika Spiegel, Mona Leitner und Piero Salabè

Lektor*innen, die: sechs Personen, deren Job es ist, Bücher zu »machen«. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verlagen und Literaturagenturen, sie kommen aus Heidelberg, Köln, München, Berlin oder Wien, und arbeiten seit Jahren mit Autor*innen an deren Manuskripten, begleiten sie auf dem Weg zum fertigen Buch, sind Ratgeber*in und manchmal auch Freund*in, immer aber »erste*r Leser*in«, und das vor allem kritisch im besten Sinne des Wortes.

Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor*innen aus renommierten Verlagen und Literaturagenturen dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an die Lektor*innen weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidat*innen aus.

Die ersten drei der sechs Lektor*innen des 29. open mike stellen wir euch heute vor.


Annika Spiegel

Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Ich habe nach Texten gesucht, die mich einnehmen, bei denen ich neugierig bin, wie sich die Handlung entwickelt, die mir auch nach dem Lesen noch im Kopf bleiben und mich beschäftigen. Anders als im Verlag musste ich mir aber nicht die Frage stellen, ob ein Text in eine bestimmte literarische Reihe und Programmatik passt.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Viele Texte, die ich lesen durfte, handeln von existenziellen Themen – von Krankheiten, Traumata, dem Tod. Anfangs dachte ich, das wäre ein subjektives Empfinden, aber nach einer kleinen Privatstatistik war ich mir dann doch sicher, dass diese Themen vergleichsweise häufig vorkamen. Überrascht hat mich hingegen, dass kaum gesellschaftspolitische oder humorvoll-ironische Texte in meinem Stapel waren.

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Sie wird in ihrer Gänze vielfältiger – das betrifft nicht nur die Autoren, deren Literatur publiziert wird, sondern (sicherlich auch daraus folgend) genauso die Themen und literarischen Figuren. Ich hoffe, dass sich das noch steigert, der Anspruch auf eine Vielfalt erzählter Perspektiven sich verfestigt. Und dass man – vor allem in der Literaturkritik – davon absieht, Diversität gegen Qualität auszuspielen. Da schließt sich nichts aus, ganz im Gegenteil.

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

An der Arbeit mit Debütanten reizt mich, bei etwas ganz und gar Neuem dabei zu sein. Das ist eigentlich unabhängig vom Alter der Autoren, aber in diesem Fall finde ich es schon spannend, dass ich selbst im Teilnehmeralter bin und hoffe, dass das auch bereichernd für die Autoren sein kann.

Worauf freuen Sie sich in Hinblick auf den 29. open mike am meisten?

Auf die Lesungen; darauf, die Texte zu hören und sich anschließend über sie auszutauschen.


Annika Spiegel studiert Politikwissenschaft und Germanistik. Sie ist als freie Korrektorin/Lektorin tätig und arbeitet seit 2019 beim Verlag Das Wunderhorn in den Bereichen Lektorat und Social Media. Von 2017 bis 2020 war sie Vorsitzende des Kulturvereins Querfeldein Heidelberg e. V.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Astrid Gläsel
Grit Krüger
Elena Fischer

**

Mona Leitner

© Ella Wonschik

Welche Kriterien haben Sie an die open-mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Ich fürchte, es ist nichts Neues, wenn ich schreibe: Die Texte sollten im Rahmen der Lesung und in der kurzen Form funktionieren. Darüber hinaus habe ich mich schamlos von meiner Begeisterung leiten lassen, habe den Stapel nach Texten durchforstet, die einen eigenen, selbstbewussten Ton haben, in denen die literarischen Mittel überzeugend und konsequent eingesetzt werden, die nachhallen, Eigensinn und Mut durchscheinen lassen. Anders als im Verlag konnte ich das tun, ohne das Programmumfeld oder den Markt im Blick behalten zu müssen – und ohne die üblichen Nebengeräusche (biografische Angaben z.B.) im Ohr zu haben.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Ich habe noch etwas mehr formalen Wildwuchs erwartet, mehr Texte, die fröhlich oder trotzig sämtliche Kategorien sprengen und dabei auch riskieren, grandios zu scheitern. Ich würde daraus aber keine Tendenz ableiten wollen.

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Mit vorsichtigem Optimismus würde ich sagen, dass sie auf dem Weg ist, vielfältiger zu werden, sich in ihr mehr und mehr unterschiedliche Lebenswelten, Perspektiven und (ästhetische) Positionen finden lassen.

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Völlig unabhängig vom Alter der Autor*innen ist es ziemlich aufregend, jemanden auf dem Weg zum ersten Buch begleiten zu dürfen. Dabei zu sein, wenn es erscheint, die ersten Rezensionen und Lesungen abzuwarten, sich gemeinsam zu freuen oder zu ärgern, Zukunftspläne zu schmieden und alles dafür zu tun, dass diese nicht immer freundliche (Literatur-)Welt da draußen dieser neuen Stimme genauso gebannt zuhört wie man selbst.

Worauf freuen Sie sich in Hinblick auf den 29. open mike am meisten?

Die Vorstellung, sich ein Wochenende lang zusammenrotten zu können, stundenlang in einem finsteren Raum zu sitzen und den Texten zu lauschen, in der Pause im Novembernieselregen zu stehen und über Literatur zu sprechen und über den dünnen Kaffee im Foyer, ich glaube, mich hat selten etwas glücklicher gemacht.


Mona Leitner, geb. 1987, studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und arbeitete zunächst am Theater. 2015 ging sie als Volontärin zum Verlag Kiepenheuer & Witsch und ist dort seit 2017 Lektorin für deutschsprachige Literatur.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Julie Sophia Schöttner
Kaleb Erdmann
Peter Thiers

**

Piero Salabè

© Frank Hanewacker | Sedan Sieben

Welche Kriterien haben Sie an die open-mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Zunächst sind es bei der Lektüre der Texte ähnliche Kriterien: Wie wird Sprache verwendet? Ist ein künstlerischer Anspruch – ein Wille zur sprachlichen Form – erkennbar, und wird dieser auch erfüllt? Wie originell ist der Text, wie eigen die „Stimme“ – oder überwiegt des Eindruck des Déjà-vus, des Konventionellen, des gewollt Heutigen?
Bei Entscheidungen für unser Verlagsprogramm haben wir meistens jedoch auch die Möglichkeit, weitere Werke der potentiellen Autor:innen zu lesen, um diese besser einordnen zu können. Es ist eher selten der Fall, dass wir Debüts veröffentlichen. Bei den open-mike Texten steht nur eine (anonyme) Auswahl zur Verfügung: Das kann den Vorteil einer vorurteilsfreieren Beurteilung haben und sicherlich spielt der Instinkt des Beurteilenden eine noch größere Rolle.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Es hat mich überrascht, wie häufig neue digitale Kommunikationsformen zitiert werden sowie die sprachlichen Neuschöpfungen, die sich daraus herleiten. Das Zitieren sagt zunächst wenig über die Überzeugungskraft der Texte aus, aber es zeigt, wie jüngere Dichter:innen von einer neuen sprachlichen Realität umgeben sind, der sie Rechnung tragen möchten.

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Es scheint mir, dass die Gegenwartsliteratur der neuen kosmopolitischen Realität Europas gerechter werden will, dass die Beziehungen zwischen den Geschlechtern oder allgemeiner die Identitäten und gesellschaftlicher Rollen deutlicher hinterfragt werden.

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Junge Autor:innen stehen am Anfang: Der Anfang ist voller Offenheit, Angst und Energie. Daraus ein Werk entstehen zu lassen, das nicht nur Ausdruck eines Augenblicks, sondern eine Art der „seelischen“ Bewältigung unserer Zeit ist, ist die große Herausforderung.

Worauf freuen Sie sich in Hinblick auf den 29. open mike am meisten?

Ich freue mich auf die Begegnung mit den Menschen, die hinter den Texten stehen. Auf ihren Vortag, ihre Stimmen. Auf das Unerwartete, das sich ergibt, wenn Poesie im Raum ist.


Piero Salabè, geb. 1970 in Rom, Studium in Venedig, London, Rom und München. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Übersetzer, Lektor und Herausgeber und lebt in München. Nach seiner Promotion bei Claudio Magris war Salabè bei den Verlagen Antje Kunstmann und Hueber tätig. Seit 2008 ist er bei Hanser zuständig für das internationale Literaturprogramm. Er ist Mitherausgeber der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser und hat verschiedene italienische DichterInnen ins Deutsche übersetzt (Patrizia, Cavalli, Milo De Angelis, Valerio Magrelli, Ana Luisa Amaral). 2019 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband Il bel niente (La nave di Teseo).

Ausgewählte Teilnehmer*innen

Paul Jennerjahn
Alexander Kappe
Dominik Kohl
Samuel J. Kramer
Lisa Memmeler
Else Schmauch

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