Die Lektor*innen des 29. open mike | Teil 2: Ralph Klever, Meike Herrmann und Hannes Ulbrich

Lektor*innen, die: sechs Personen, deren Job es ist, Bücher zu »machen«. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verlagen und Literaturagenturen, sie kommen aus Heidelberg, Köln, München, Berlin oder Wien, und arbeiten seit Jahren mit Autor*innen an deren Manuskripten, begleiten sie auf dem Weg zum fertigen Buch, sind Ratgeber*in und manchmal auch Freund*in, immer aber »erste*r Leser*in«, und das vor allem kritisch im besten Sinne des Wortes.

Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor*innen aus renommierten Verlagen und Literaturagenturen dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an die Lektor*innen weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidat*innen aus.

Drei weitere der sechs Lektor*innen des 29. open mike stellen wir euch heute vor. Zu den anderen drei geht’s hier entlang.


Ralph Klever

Ralph Klever
© Jana Enzelberger

Welche Kriterien haben Sie an die open-mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Als kleiner Literaturverlag positioniere ich mich in einer Nische, in der man nicht zwangsläufig auf die Produktion bestsellerverdächtiger Romane schielt. Beim Open Mike finde ich es reizvoll, Texte zu beobachten, die im Literaturbetrieb ankommen und Aufmerksamkeit generieren möchten – mit welchen Mitteln? Kunstgriffen? Inszenierungen?

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Überraschen lasse ich mich gerne von jedem anderen, neuen Blick auf die Gegenwart, getrieben von dem Impuls, das Feld der Literatur kritisch zu durchmessen, um es gegebenenfalls mit neuem Werkzeug zu beackern. Positive Tendenzen u.a.: Auflösung konventioneller Identitätsmuster, Infragestellung diverser kultureller Codes etc.

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Die Frage stellt sich, wie sich eine neue Literatur positionieren kann in einer Zeit aus den Fugen (Klimakatastrophe, Erosion der Demokratie etc.)? Negative Tendenzen u.a.: Rückzug ins Private, allerneueste Innerlichkeit, Inszenierungsliteratur mit Show-Effekten. Positive Tendenzen u.a.: Grenzüberschreitungen, hybride Literaturformen unter Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse u.ä. 

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Die Hoffnung, dass es weitergehen könnte mit einer Literatur, die ihren eigenen Fußabdruck in der Gegenwart hinterlassen möchte.

Worauf freuen Sie sich in Hinblick auf den 29. open mike am meisten?

Auf Begegnungen mit Menschen und Stimmen hinter den Texten.


Ralph Klever, geb. in Klagenfurt, studierte Geschichte und Germanistik in Wien und Bielefeld, verantwortete viele Jahre das Literaturprogramm im Ritter Verlag, war letzter Assistent von Fritz Molden und bespielt seit 2008 den Klever Verlag in Wien.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Philip Hart
Patrick Klösel
Eva-Maria Dütsch

**

Meike Herrmann

Meike Herrmann
© Julia Zierer

Welche Kriterien haben Sie an die open-mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl in der Agentur heranziehen?

Ich habe nach dem sprichwörtlichen ‚bisher Ungehörten‘ gesucht, genauso aber nach Geschichten, die mich beschäftigen, berühren. Befreit von der Frage, wie sich ein Text pitchen und verpacken lässt, war ich offener für offene Formen. 
Die Kürze der Texte zwang den Blick dabei noch stärker als in der Agenturarbeit auf Sprache und Form. Da die Texte so, wie sie eingereicht werden, im Wettbewerb bestehen müssen, habe ich einige Texte nicht in die engere Auswahl genommen, an denen ich gern mit den Autor*innen gearbeitet hätte.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Ich war überrascht, viele eher private Themen in meinem Manuskriptstapel zu finden, viel Innensicht. Erstaunt auch, dass kaum ein Text sich den politischen Themen unserer Zeit widmete: Klimakrise, gesellschaftliche Spaltung. Und anders als in den vergangenen Jahrgängen gab es kaum gattungsmäßig hybride Texte. Dieser Eindruck wird sich im Wettbewerb sicherlich noch verändern.
Und dann gab es mittendrin die echten Überraschungen, die drei sehr verschiedenen Texte, die ich ausgewählt habe!

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Nachdem die deutschsprachige Literatur in den letzten Jahren um so viele Perspektiven reicher geworden ist: migrantische, postmigrantische, queere Perspektiven insbesondere, freue ich mich aktuell über zweite, dritte Manuskripte und Bücher dieser Autor*innen, in denen die vielleicht weniger erwartbaren, die weniger autobiografischen Geschichten erzählt werden. 
Ich sehe viel kluge und relevante Auseinandersetzung mit Herkunft, Milieu, Identität in der aktuellen Literatur, aber auch großartiges Ausloten von Beziehungs- und Familienkonstellationen. Davon kann es nie genug geben. 
Gespannt bin ich, ob deutschsprachige Autor*innen in den kommenden Jahren ähnlich avancierte autofiktionale Formen finden, wie sie in der englischsprachigen und französischen Literatur zu sehen sind, und ob sie sich auch kommerziell durchsetzen können – was ich mir wünsche.

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Ihre oft ausgeprägte Reife und Entschlossenheit zu erleben. Den Einstieg in den Literaturbetrieb zu begleiten. 

Worauf freuen Sie sich in Hinblick auf den 29. open mike am meisten?

Ganz einfach: auf die Möglichkeit zu Begegnungen und Gespräch. 


Meike Herrmann, geb. 1975 ist Agentin für Belletristik in der Literaturagentur Graf & Graf. Sie unterrichtet Workshops zum Schreiben und Lektorieren und hat viele Jahre als Lektorin gearbeitet, unter anderem im Rowohlt Berlin Verlag. Meike Herrmann hat in Berlin und Jerusalem Neuere Deutsche Literatur studiert und über das literarische Erzählen vom Nationalsozialismus promoviert. 

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Laura Anton
Ann Esswein
Kathrin Vieregg

**

Hannes Ulbrich

Hannes Ulbrich
© Piper Verlag

Welche Kriterien haben Sie an die open-mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Ich beginne die Lektüre erstmal vorbehaltlos und hoffe auf möglichst große Stimmigkeit; darauf, dass sich der Text über seine eigenen Kriterien im Klaren ist. Bei so einem Stapel, wie ich ihn für den open mike bekommen habe, treten die Texte, ob man will oder nicht, irgendwann gegeneinander an. Dadurch entsteht eine merkwürdige, künstliche Verbindung zwischen ihnen, die aber manchmal ganz erhellend sein kann. Das wird an dem Wochenende im Heimathafen ähnlich sein. Durch die anonymisierte Einreichung blieb die Person hinter dem Text bei der Vorauswahl erstmal im Dunkeln, was geholfen hat, sich auf den Text zu verlassen. An die Lektüre für den Verlag schließen sich im nächsten Schritt viele weitere, manchmal komplizierte Überlegungen an, die konnte ich hier nun außer acht lassen. Auch mal ganz schön.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Sehr viele Texte haben auf die Diskurse und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Monate und Jahre reagiert. Die Tatsache hat mich nicht überrascht, das Ausmaß allerdings schon – es war interessant, all die Versuche zu lesen, die richtigen Worte und eine geeignete Form für unsere manchmal doch recht problematische Gegenwart zu finden. In meinem Stapel waren außerdem kaum lustige Texte zu finden. Vielleicht besteht da ein Zusammenhang.

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Es gibt den starken Wunsch danach, dass Literatur themengetrieben und diskursrelevant ist. (Siehe Frage 2.) Den kenne ich von mir natürlich auch. Die Kehrseite dieses Wunsches ist, dass sich dadurch immer wieder ein Verwertbarkeitsdenken einschleicht, das in meinen Augen für Kunst im Allgemeinen nicht gelten sollte. 

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Das Altersargument finde ich eigentlich immer haltlos. Ich habe noch nie ein Buch gelesen, nur weil die Autor*in jung war. Das Gleiche gilt für die Arbeit. Besonders wird die Zusammenarbeit dann, wenn man richtig zueinanderfindet und miteinander Feuer fängt. Dafür gibt es kein Rezept und – soweit ich weiß – keine Altersbeschränkung. Bei der Arbeit an einem Debüt sind natürlich viele Sachen erstmal neu, aber das sind meist äußere Dinge, die schnell geklärt sind und die Textarbeit nicht betreffen.

Worauf freuen Sie sich in Hinblick auf den 29. open mike am meisten?

Dass er hoffentlich stattfindet. Vor Ort, live und in Farbe.


Hannes Ulbrich studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Europäische Ethnologie. Seit April 2017 ist er Lektor für deutschsprachige Literatur im Piper Verlag.

Ausgewählte Teilnehmer*innen

Henrik Failmezger
Sebastian Behr
Jan Thul

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