Olga Martynova, Anja Utler und David Wagner bilden in diesem Jahr die Jury, die drei aus 21 gelesenen Texten ausgewählt haben. Außerdem wird natürlich wieder der Preis der taz-Publikumsjury vergeben. Hier kommen die Laudationes auf die Preisträger*innen.
Die taz-Publikumsjury auf Laura Anton und ihren Text Holzhausen (Auszug)
Es waren zwei spannende Tage voller toller Texte und vieler Diskussionen. Wir danken allen Kandidat*innen für ihre Beiträge. Wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, konnten uns aber am Ende doch auf einen Text einigen. Der Text erweckt ein vielschichtiges und lebendiges Szenario, das uns allesamt begeistert hat. Es strahlt eine riesige Einsamkeit aus, die uns allesamt berührt hat. Wir freuen uns riesig, dass Holzhausen bald auch in der taz ist. Der Preis der taz-Publikumsjury geht an Laura Anton und ihren Text Holzhausen. Wir gratulieren!
Olga Martynova auf Eva-Maria Dütsch und ihren Text Urin und Blütenhonig
Eine alte Frau: Ihr Kopf sei ein Haus, in dem nichts mehr gesagt wird, oder andersherum, ihr Haus sei ein roter Kopf, in dem alles notgedrungen metaphorisiert wird: »2 Regen, Bruder & Schwester«; »Im Meer wird ein Meer abgefangen«; »Regen und Holz in ihrem Gesicht, das Gefühl eines undichten Altbaus«. Und zu Hause steht ein Knochen in der Vase im Wasser und wartet auf das Aufblühen.
Was ist das? Was wird uns vermittelt? Sehnsucht, Bedrohung, Einsamkeit, Missbrauch, Überschuss an Phantasie, Unmöglichkeit, den Kontakt zur Welt zu finden, Verzweiflung. Bilder der Wirklichkeit vermengen sich mit den Einschüben der Phantasie, die immer realer und wichtiger werden. In der Flut von Sehnsucht, Bedrohung, Einsamkeit, Missbrauch, Überschuss an Phantasie, Unmöglichkeit, den Kontakt zur Welt zu finden, Verzweiflung werden immer neue Bilder erzeugt, bis alles still steht und die letzten Sätze der Geschichte sich wieder mit dem ersten Satz treffen.
Dieses Erzählen hat weder Angst vor Rätselhaftigkeit noch vor Düsterkeit, es wagt viel, ist dicht und von vielen stets wechselnden Bildern besiedelt.
Mit Eva-Maria Dütsch wird eine Autorin mit einem der drei open-mike-Preise prämiert, die daran erinnert, dass Literatur ein magisches Medium sein kann, ein Instrument, das Zwischenräume erforscht, eine Aussage, die nicht eindeutig ist, sondern die Leser zu einem Gespräch einlädt und die Mehrstimmigkeit der Welt feiert.
Anja Utler auf Samuel J. Kramer und seine Gedichte
Das erste Gedicht das Samuel Kramer uns hier vorgelesen hat, trägt den Titel »weiß nichts vom Schnee«, im nächsten Gedicht ist vom fehlenden »je ne sais quoi« die Rede, gleich nachdem einigermaßen kühn behauptet wurde: »Es gibt ferner Folgendes nicht mehr: Gewitter, Fehler, Bäume.« Die Gedichte, die Samuel Kramer vorgestellt hat, waren sehr unterschiedlich, aber sie teilen einen Grundimpuls: sie fragen. Sie fragen, in welcher Sprache sich der Gegenwart begegnen lässt, wie sich Verstehen und Verständnis herstellen lässt, einfaden, ausfaden, das Garn aufdröseln, führt der Faden, den man spinnt ans Ziel? Die digitalen Gesprächspartner in den Gedichten bitten um Einverständnis: »Sag: Ja, das meinte ich. Das meinte ich auch.« Es liegt ein trauriger Witz in Samuel Kramers Gedichten, »unser doom gib uns heute«, im spielerischen Gestus der Sprechens, der sich direkt aus den Prozessen der Wirklichkeit zu speisen scheint: wo sich das Meer mit dem Land mischt, das Wasser die Inseln verschlingt, vermischen sich auch die Laute, so dass »die möwen auf lücken riegen« und die »halligen heilen«. Vielleicht können uns Gedichte nicht heilen, aber sie können uns Wunden zeigen, und ihnen mit Zartheit und Vitalität begegnen. Samuel Kramers Gedichte haben uns das gezeigt, dafür verleiht ihm die Jury einen der Preise des open mike 2021.
David Wagner auf Kathrin Vieregg und ihren Text Cui Bono
Was tun, wenn eine nahestehende Person (P) abdriftet und Verschwörungstheorien verfällt? Was, wenn ein Planet plötzlich nicht mehr als Planet mit verlässlicher Umlaufbahn gilt?
In ihrer klaren polyphonen Erzählung Cui Bono stellt Kathrin Vieregg sich genau dieser Versuchsanordnung. Unverschwurbelt erzählt von der Verschwurbelung im Privaten und in der Welt und von dem Schmerz, den es bereitet, eine Person so fast zu verlieren.
In ihrem Text appropriiert Kathrin Vieregg die Tropen der Schwurbler stellt sie aus – und lässt sie für sich sprechen. Dabei bleibt die Erzählung Cui Bono immer ökonomisch und knapp, verschwendet keine sprachlichen Mittel und lässt uns Leser*innen die offenen Lücken, die gute Prosa braucht.
Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn beim open mike 2021, liebe Kathrin Vieregg.