Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor:innen, Literaturagent:innen sowie Verleger:innen dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an die Vorjury weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidat:innen aus.
Die ersten vier der sieben Vorjuror:innen des 30. open mike stellen wir euch heute vor.
Hans Jürgen Balmes
30 Jahre open mike – wie stehen Sie persönlich zum Wettbewerb und worauf freuen Sie sich am meisten in diesem Jahr?
1995 gewann Julia Franck den 3. open mike, kurze Zeit später konnten wir im Ammann Verlag ihren ersten Roman veröffentlichen: Der neue Koch. Der Titel umriss für uns die Bedeutung des Wettbewerbs: Neue Köch*innen braucht das Land. Die Sprachbegeisterung des Wettbewerbs inspirierte: Kathrin Röggla und Ulf Stolterfoht gehörten zu den ersten Preisträger*innen.
Das wünsche ich mir in diesem Jahr: Texte, die, quer zum Betrieb liegen, über die gestolpert werden kann.
Welche Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl der Texte besonders wichtig?
Meine Kriterien versuchte ich aus den Gedichten zu gewinnen, ohne festes Programm. Ich ging von den Texten aus, versuchte ihre Landschaften zu verstehen – sie waren so anders wie bei meinen Einsätzen 2004 oder 2014: das Digitale drückte sich durch, das Multilinguale war keine Fachsprache mehr, sondern Fact. Daraus versuchte ich zu lernen und in der Topografie Höhenlinien zu erkennen.
Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Es passiert viel, es wird viel wahrgenommen, was in die Sprache und in das Gedicht soll – Wolken werden zu Clouds, eine clever coole Verspieltheit schaute überall ums Eck.
Konnten Sie Tendenzen erkennen? Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Bei den Texten gab es – wohl eine Konstante – viele Gedichte über Liebesbegegnungen, und iPhones spielten dabei oft eine tragende Rolle. Aber nur in wenigen Texten schuf das eine pulsierende Gegenwärtigkeit, oft telefonierte das Gedicht noch über Landleitung und war zu fest angeschlossen an etablierte WLAN-Netze. Dann schielt das Gedicht auf andere, statt sich selbst in den Blick zu nehmen.
Tendenzen der Gegenwartslyrik? Ein gesundes Chamäleon schimmert in allen Farben. Feuerwerke huschten in den letzten Jahren über seine Haut. Gut so, in der Lyrik schlägt das Herz der Literatur.
Möchten Sie den jungen Autor:innen schon jetzt etwas mit auf ihren Weg geben?
Hört die Texte mit dem Stethoskop ab! Manchmal waren die ersten fünf Gedichte superklasse, und dann kamen Luftpolster, durch die man die Qualitäten der ersten fünf verzerrt wiedertraf. So schade, hätte ich nur die ersten 5 Gedichte gelesen, hätte es eine andere Top Ten ergeben.
Hans Jürgen Balmes, 1958 in Koblenz geboren, arbeitet seit 1987 als Lektor, seit 1999 im S. Fischer Verlag. Mitherausgeber der Neuen Rundschau. Zwischen 1994 und 2004 entstanden vier ausführliche Gespräche mit Thomas Kling. Übersetzungen aus dem Englischen, im Frühjahr 2021 erschien Der Rhein. Biographie eines Flusses.
Ausgewählte Teilnehmer:innen
Martin Baumeister
Clara Cosima Wolff
Felix Reinhuber
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Jörn Dege
30 Jahre open mike – wie stehen Sie persönlich zum Wettbewerb und worauf freuen Sie sich am meisten in diesem Jahr?
Ich freue mich vor allem darauf, mal wieder im Heimathafen zu sein und einige Leute wiederzusehen. Nach drei ausgefallenen Buchmessen und einigen Monaten Elternzeit, kann ich es kaum erwarten. Das verbinde ich auch mit dem open mike: Das ganze Drumherum, die Möglichkeit zu besonderen Begegnungen und einem Austausch über die Jahre hinweg. Das ist viel mehr als der Wettbewerb selbst und wirklich einzigartig.
Welche Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl der Texte besonders wichtig?
Leider habe ich da keine, zumindest nicht bewusst. Das würde die Auswahl zwar leichter machen, aber sicher auch an vielen Texten vorbeigehen. Wenn überhaupt habe ich Kriterien für mich beim Lesen: so wach wie möglich sein, immer mit Neugier rangehen und wenn das nicht klappt: Pause machen!
Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Wie schwer mir die Auswahl gefallen ist. Und dass es eher wenige Texte gab, die ich schnell beiseite legen konnte. Außerdem spielten in vielen Texten die Eltern eine große Rolle, zumindest kam mir das so vor. Und gleichzeitig fand viel Draußen statt, auf Reisen, in der Ferne. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre hätte ich mehr Kammerspiele erwartet. Experimentelle oder poetische Prosa bzw. Erzählungen, die das Erzählen mit reflektieren, gab es zwar auch, aber weniger als ich dachte.
Konnten Sie Tendenzen erkennen? Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Ich finde es bemerkenswert, dass es ja gerade die Themen der jüngeren Generation sind, die aktuell die Gegenwartsliteratur insgesamt prägen: Identität, Gender, Herkunft, neue Blickwinkel auf Themen der deutschen Geschichte – was sich dann auch in Form und Sprache niederschlägt. Diese Tendenzen waren in den Texten aus meinem Stapel durchaus zu finden, aber nicht so stark, wie ich das erwartet hatte.
Möchten Sie den jungen Autor:innen schon jetzt etwas mit auf ihren Weg geben?
So allgemein ist das schwierig. Ich freue mich erstmal aufs Kennenlernen!
Jörn Dege, 1982 geboren, Studium der Mathematik und Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2010 – 2016 Redakteur der Literaturzeitschrift Edit und 2013 – 2022 Herausgeber der Buchreihe Volte bei Spector Books (zusammen mit Mathias Zeiske). Freier Lektor, Leiter literarischer Werkstätten und Fortbildungen, verschiedene Lehraufträge. Seit Beginn 2014 Geschäftsführer am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (aktuell in Elternzeit). Mitorganisator des Leipziger Festivals Literarischer Herbst seit 2019.
Ausgewählte Teilnehmer:innen
Pauline Meurer
Lina Schwenk
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David Frühauf
30 Jahre open mike – wie stehen Sie persönlich zum Wettbewerb und worauf freuen Sie sich am meisten in diesem Jahr?
Vor rund 13 Jahren, also etwas mehr als ein Drittel seines nunmehrigen Bestehens, habe ich zum ersten Mal von ihm gehört, und seitdem verfolge ich den Wettbewerb mal mehr, mal weniger aufmerksam, meist als Zuhörer, einmal sogar als Teilnehmer, vor allem aber immer wieder durchaus freudig überrascht bis hin zu beeindruckt von einzelnen Sätzen, Passagen, Ideen, von ganzen Texten, von dem Mut der Autor:innen, sich zu präsentieren, von der Konzentration des Publikums.
Welche Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl der Texte besonders wichtig?
Zunächst und -vorderst, sicherlich, die Sprache: Wie wird sie eingesetzt? Ist sie Mittel? Zweck? Lässt sie Lücken? Fragen? Konstruiert sie eine gänzlich eigene Welt? Oder zersetzt sie die gegebene, um sie neu zu artikulieren?
Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Dass die Reinigung des Rachenraums ein Akt des Widerstands gegen den Tod ist und dass Fantasie zum Glück nach wie vor etwas weniger reibungslos sein kann als die Realität.
Konnten Sie Tendenzen erkennen? Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Die Gegenwart in all ihrer Vielfalt, in all ihrer Krisenhaftigkeit, in aller Individualität drängt in die Literatur, verschafft sich Zugang, wo vorher noch weitaus mehr (eigene und fremde) Hemmnisse waren, sowohl hier bei den Wettbewerbstexten als auch in der mir bekannten jüngsten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Möchten Sie den jungen Autor:innen schon jetzt etwas mit auf ihren Weg geben?
Für einen Ratschlag für den weiteren Weg fühle ich mich kaum bis gar nicht kompetent genug, aber als Motivations- und Kalenderspruch eignet sich Becketts »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.« eigentlich immer bestens.
David Frühauf, 1987 geboren, studierte deutsche Philologie und Sprachkunst in Wien, literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Neuere deutsche Literatur in Berlin, wo er als Lektor und Übersetzer lebt. Zuletzt: Andreas Malm: Der Fortschritt dieses Sturms und Benjamin Bratton: Die Realität schlägt zurück (beide Matthes & Seitz Berlin 2022).
Ausgewählte Teilnehmer*innen
Annegret Liepold
Patrick Holzapfel
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Anna Humbert
30 Jahre open mike – wie stehen Sie persönlich zum Wettbewerb und worauf freuen Sie sich am meisten in diesem Jahr?
Ich bin nur unwesentlich älter als der open mike, daher traue ich mich jetzt mal zu sagen: Wie wunderbar, dass der Wettbewerb schon so alt ist! Wie gut, dass jungen Schreibenden bereits seit drei Jahrzehnten eine Bühne gegeben wird. Mir gefällt, dass hier dank des anonymisierten Auswahlverfahrens tatsächlich der Text im Mittelpunkt steht und man all die Marktlogiken und möglichen Verkaufsargumente, die einem sonst so bei der Arbeit als Lektor*in durch den Kopf schwirren, getrost ignorieren darf. Und ich freue mich auf die Begegnung mit den Autor*innen, deren Mut mir imponiert. Denn das ist Schreiben, Veröffentlichen, Vortragen ja: wahnsinnig mutig.
Welche Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl der Texte besonders wichtig?
Für mich ist immer entscheidend, dass der Text als Ganzes schlüssig ist, formal und inhaltlich, im idealen Falle im gleichen Maße. Anders als bei meiner regulären Arbeit im Verlag habe ich bei der Auswahl der Finalist*innen-Texte allerdings nicht überlegt, welche Programmlücke er schließt oder wer die potentielle Leser*innenschaft wäre. Ich habe nach einem originellen Zugang zu einem Thema und einem dazu passenden Sound gesucht.
Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?
Viele der Texte haben sich an sehr ähnlichen Themen abgearbeitet, insbesondere an Identitätskrisen. Das hätte ich in der Fülle so nicht erwartet. Und auf meinem Stapel lagen kaum literarische Dystopien, auch das hat mich überrascht. Aber das liegt sicherlich daran, dass unsere Wirklichkeit dystopisch genug ist. Auf der anderen Seite: Der Tristesse der Gegenwart wurde auch nicht viel Aufmunterndes entgegengesetzt. Nur sehr wenige Texte sind das große Wagnis Humor eingegangen. Meine Lektüre war nicht gerade eine heitere. Auch wenn’s Spaß gemacht hat.
Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Die Themen und Stimmen werden zunehmend diverser, zum Glück. Und ich könnte jetzt recht unoriginell auf etwas wie den nicht enden wollenden Siegeszug der Autofiktion verweisen. Aber eigentlich widerstrebt es mir, generalisierende Aussagen zu treffen. Die literarischen Programme von großen und kleineren Verlagen sind so unterschiedlich in ihren Schwerpunktsetzungen, und überhaupt stellt sich ja die Frage, was genau wir unter »Gegenwartsliteratur« verstehen. Es gibt ja auch noch Publikationsorte jenseits der Verlage, jenseits des gedruckten Buchs. Ich freue mich jedenfalls über die Vielfalt und über jedes Buch, das in ästhetischer, also formaler Hinsicht etwas wagt.
Möchten Sie den jungen Autor:innen schon jetzt etwas mit auf ihren Weg geben?
Vielleicht: Sich genau zu überlegen, was man eigentlich zu sagen hat und dann daran zu arbeiten, wie man davon erzählen will und kann. Und dann eben: mutig sein und bleiben. Dem eigenen Stoff und der eigenen Stimme vertrauen. Konstruktive Kritik von destruktiver unterscheiden zu lernen, hilft ganz bestimmt auch. Aktuellen Trends hinterherzujagen vermutlich eher weniger. Und so abgeschmackt und altväterlich es klingen mag: lesen. Möglichst unorthodox, auch mal abseits der eigenen Vorlieben. Ich glaube, das hilft immer.
Anna Humbert, 1990 geboren, studierte Germanistik und Theologie in Göttingen, hat verschiedene Literatur- und Lyrikfestivals mitbegründet und organisiert und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Potsdam sowie als Kuratorin am Literaturhaus Berlin gearbeitet. Seit 2021 ist sie Lektorin für deutsch- und englischsprachige Literatur im Rowohlt Verlag.
Ausgewählte Teilnehmer:innen
Ruth-Maria Thomas
Anuscha Zbikowski