Die Erzählerin des Textes ist schwer zu greifen. Sie hat sich vor einem Jahr arbeitslos gemeldet und kurz darauf angefangen, in einer Bar zu arbeiten, für die 165 Euro, die sie neben dem Arbeitslosengeld verdienen darf. Was sie mit ihrer Zeit anfängt, ist unklar, außer dass sie bemüht ist, sie totzuschlagen. Sie scheint von einer inneren Unruhe und dem latenten Wunsch, sich gegen die sozialen Verhältnisse aufzulehnen, getrieben, kann sich nicht allein in der Wohnung aufhalten, gleichzeitig wirkt sie lethargisch und depressiv, wie es ihr auch ihre Arbeitskollegin diagnostiziert. Sie scheint keine großartigen Ziele zu haben, sondern lebt so vor sich hin.
Meine Eltern haben mich mit dem Credo erzogen, dass Fleiß belohnt werde und Erfolg eine Sache des eigenen Willens und Wollens sei. Ich glaube diese Sätzen nicht, kann aber auch nicht das Gegenteil beweisen. Dafür will ich zu wenig.
Ihre Arbeit in der Bar macht ihr Spaß, sie fügt sich ein in die ratternde Maschine, die ein solcher Gastronomiejob ist, und scheint völlig zufrieden damit.
Ich leide höchstens am Herrn-Lehmann-Effekt: Die Leute finden es okay, wenn ich in einer Bar arbeite, solange ich eigentlich etwas anderes machen möchte, Kunst am besten. Ich will aber nichts anderes machen, Kunst schon gar nicht.
Annegret Liepolds Text wirft Fragen auf. Vor allem fragt man sich: Wer ist Lucy? Mal scheint es, als sei sie ein imaginäres Alter Ego, mit dem sie ein inneres Zwiegespräch führt, mal sieht es nach einer dissoziativen Identitätsstörung aus, etwa wenn Lucy einen Gedanken der Erzählerin postet, ohne dass diese daran beteiligt ist. Die Erzählerin hat der Stimme offenbar den Namen Lucy gegeben. Auch ein Verlust liegt nahe, etwa als die Erzählerin sich ermahnt, sie solle aufhören mit Lucy zu reden, »als sei sie noch da«.
Das Thema Technik und Digitalisierung zieht sich durch den gesamten Text, von der Selbstbedienungskasse über die piepende Uhr, die zu wissen scheint, wenn man zu spät ist, bis hin zu den Algorithmen und Datensätzen, die einem an den Fersen kleben. Man kann sich auch fragen, ob es sich bei Lucy um eine künstliche Intelligenz handelt, scheint sie doch alles besser zu wissen, und einzelne Bestandteile der menschlichen Kommunikation wie rhetorische Fragen gerade erst zu erlernen.
Immer sprechen wir davon, dass die Daten uns nackt machen, wir gläsern und durchsichtig sind. Dabei werden wir mit jedem Tag unsichtbarer, verschwinden hinter dem Wust von Daten, die wir mit jeder Entscheidung und jeder Transaktion produzieren.
Die Sprache ist klar und pointiert. Es macht Spaß, den Text zu lesen, auch wenn er ein wenig ratlos zurücklässt. Die Erzählerin und ihre Rebellion bleiben undurchsichtig. Trotzdem sind viele ihrer Gedanken eine akkurate Repräsentation einer Generation, die versucht, sich inmitten multipler Krisen zurechtzufinden und mit dem omnipräsenten Gefühl der Sinnlosigkeit klarzukommen.
Ein Gedanke zu “Annegret Liepold: Sand”
Ziemlich gut, interessanter Text, man möchte mehr lesen