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von Stefan Mesch, Open-Mike-Blogger und Finalist/Autor
(Auf dem Open Mike lesen und drüber bloggen? Darf der das…?)
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Als “embedded Blogger” und Journalist begleite ich den 20. Open Mike in kurzen, persönlichen Blog-Snapshots.
Ich bin am Samstag / Sonntag zum ersten Mal beim Wettbewerb.
Hildesheimfreund, Ex-“BELLA triste”-Herausgeber und Open-Mike-Blogger Victor Kümel hat schon mehrere Open Mikes besucht.
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Stefan: Du warst seit Jahren immer wieder auf dem Open Mike…
Victor: Ich war 2006 das erste Mal da, aus einem „junger Autor“-Selbstverständnis heraus, das war so ein Termin wie die Buchmesse: Das ist mein Feld, ich muss da hin, auch wenn ich noch keine Funktion dort habe. Außer sozusagen als Angehöriger – meistens haben Freunde oder Bekannte gelesen.
Stefan: Nein. Mir ist diese Funktion sehr wichtig: Ich habe von 2003 bis 2008 in Hildesheim studiert, und kam dann 2011, als du / ihr das dritte PROSANOVA-Festival veranstaltet habt, zum ersten Mal wieder zu Besuch. Alle sagten: „Toll! Was machst du hier? Hast du eine Lesung? Moderierst du? Bist du zurück an der Uni?“
„Ich kucke mir nur das Festival an. Ein normaler Besucher.“ – „Oh. Wie schade für dich…!“ Flüchtige Hildesheim-Bekannte hatten fast… Mitleid. Ich fühlte mich wohler, als ich Fotos machte und anfing – wenigstens – für die Festivalzeitung zu schreiben: Schon eine Kamera hilft mir total, umherzugehen und zu wissen: „Ich habe eine Mission. Ich kann etwas FINDEN. Ich bewege mich hier (auch) als Sammler, Entdecker, Auge einer größeren Öffentlichkeit.“
Deshalb freut mich diese Liveblog-Aufgabe so sehr: Mal sehen, wie viel ich – am Freitag, Samstag, Sonntag – tatsächlich bloggen kann. Für mich macht es einen großen Unterschied. Zu wissen: Ich bin nicht nur… „für mich“ hier unterwegs.
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Victor: Hat das irgendeine Relevanz für dich: Einer von fünf Hildesheimern zu sein, die am Wochenende beim 20. Open Mike lesen? Fühlst du dich positiv mit dem Studiengang/Ort/Label „Hildesheim“ verbunden… oder geht es dir auf die Nerven?
Stefan: Robin Thiesmeyer und Leif Randt – Hildesheimfreunde, von deren Arbeit ich viel halte – waren 2006 im Open-Mike-Finale. 2007 Sara Schüller, 2008 Freunde Lino Wirag und Anne Köhler, 2009 Lutz Woellert.
Im selben Jahr – 2009 – war ich zurück in der Nähe von Heidelberg, begann meinen Roman. Und etwas Neues passierte: Studenten aus Hildesheim, die ich kaum persönlich kenne, traten beim Open Mike auf. Sebastian Polmans, Vea Kaiser sind gute Freunde meiner Freunde. Aber ihr Hildesheim ist anders – neuer! – als mein Hildesheim (Link).
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Victor: Finalisten, die Kulturwissenschaften oder Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studier(t)en, sind dieses Jahr Juan S. Guse, Juliane Link, Yevgeniy Breyger und Alina Herbing.
Stefan: Yevgeniy sagte kurz auf Facebook „Hallo“. Wir haben acht Sätze gewechselt – aber ich habe jetzt schon großen Respekt vor ihm. Er ist… wach. Jemand, der keine Lügen oder Heucheleien duldet. Juliane hat schon 2008 bei PROSANOVA mitgemacht. Ich durfte ihren Open-Mike-Text lesen, und freue mich über den… Boost: Ich hoffe, sie schreibt immer weiter. Juan und Alina kenne ich noch nicht, privat.
2008 nannte Ann Cotten uns drei, vier männliche (damalige) BELLA triste-Redakteure „Hildesheimer Bubi-Mafia“. Zur selben Zeit sagte ein Hildesheimer Nicht-Freund mal: „Jaja – wir Hildesheimer. WIR erkennen uns am Stallgeruch.“
Der Dünkel, der pubertäre Muff, die eklige „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“-Haltung, die da mitschwang, widert mich an: Wir sind kein Harry-Potter-Internat, und keine stickige Privatschule. Hildesheim ist… proppenvoll mit tollen, schwierigen, kämpferischen Menschen. Ich habe sehr viel gelernt, sehr gerne studiert [wenn auch: super-ungern, spärlich gelebt], und freue mich über jedes neue Buch, das sich die Leute, die dort arbeiten, abtrotzen.
Ich lese, so viel ich kann – und keines dieses Bücher machte es sich leicht, oder wirkte… einfallslos, standardisiert.
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„Die Absolventen [der „Schreibschulen“ in Hildesheim und Leipzig] können alle ganz gut schreiben, und sie machen nichts falsch. Dass sie meistens gar keinen Stoff haben, fällt zunächst nicht auf. […] Subjekt Prädikat Objekt. Knappe Aussagesätze im Präsens. Beziehungsgeschichten, Beiläufigkeiten, Belanglosigkeit. Am besten girliemäßig und selbstbewusst.“
…klagte Helmut Böttiger vor Jahren in der SZ.
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Stefan: Klar ist es Irrsinn, mit 19 oder 20 zu entscheiden: „Jetzt lebe ich für 9 Semester in der Provinz, studiere mit Kulturwissenschaftlern, besuche Schreibwerkstätten – und für den Rest meines Berufslebens verdiene ich dann Geld, mit meinem eigenen Schreiben.“
Aber es ist auch irrsinnig toll, dass es dieses Studium gibt. Dass Leute anfangen. Durchhalten. Und ein gutes… Fünftel (?) aller Absolventen mittlerweile tatsächlich eigene Romane oder Lyrik veröffentlicht – gegen alle Sinn- und Wirtschaftskrisen.
2010 war Studiengangsleiter Hanns-Josef Ortheil Juror beim Open Mike. Brigitte Preissler schrieb in der Frankfurter Rundschau:
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„Für Schreibschulkritiker bestand kein Anlass, sich über die geringe Zahl von [am Open Mike teilnehmenden Schreibschul-]Absolventen in diesem Jahr zu freuen. Es waren zwar nur vier, […aber] drei gehörten zu den Siegern. Etwas schwer fällt es da schon, hier keinen Kausalzusammenhang zu sehen; zwischen den drei deutschsprachigen Schreibschulen in Biel, Leipzig und Hildesheim bestehen schließlich enge Netzwerke.“
„Kurioses Milchgesicht“, Brigitte Preissler, Frankfurter Rundschau
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Stefan: Preisslers Unterstellung…? Dass Ortheil seine Studenten prämiert – auch, um diese Schreibschul-Welt zu rechtfertigen und zu stützen. Schmierig. Zynisch. Schlicht gestrickt.
Ich denke, jeder Hildesheimer Schreiber hat bei seinen Auftritten das Problem / die Verantwortung, dass er nicht nur für SICH bewertet wird, sondern immer auch als „Schreibschüler“ verhandelt.
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Victor: Echt, so schlimm ist das – du gehst auf die Bühne und siehst dich als Schreibschüler in der Verantwortung?
Ich denke bei „Hildesheim“ genauso an Theater- und Filemmacher, Musiker, Kuratoren usw., und ich hab das Gefühl, dass die alle viel entspannter damit umgehen, „Hildesheim“ als Label zu verstehen.
Stefan: Als Mann / Frau, als Migrant, als Lyriker (yeah!) usw. repräsentiert man ja auch immer eine Gruppe – und dem Label „Schreibschüler / Hildesheimer“ verleihen wir Farbe, Gesicht, Stimme. Das ist nicht schlimm. Ich trage diese Verantwortung gerne.
Problematisch sind…
- die „Mafia“-, „Bubi“- und „Strippenzieher“-Vorwürfe… und die Vorstellung, dass eine Gruppe – noch mit den dümmsten, miesesten Tricks – gegen ein freies, unverschultes „Außen“ kämpft.
- der „Mach du erstmal Erfahrungen! Wo ist dein Thema?!“-Vorwurf.
Welchem Physiker, Steinmetz, Komponisten wirft man vor, dass er bei Physikern, Steinmetzen, Komponisten in die Lehre ging – statt erstmal Jurist zu werden, wie Juli Zeh, oder Autohändler, wie Kurt Vonnegut? Ich hätte mir kein zweites Studium leisten können – zeitlich wie finanziell:
Hätte ich mit 20, zur Sicherheit, „erstmal“ Psychologie in Köln studiert… ich wäre heute wahrscheinlich kein sehr guter (oder: glücklicher) Psychologe. Und (mit Sicherheit!) nicht halb so weit in meinem Schreiben.
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Ein Gedanke zu “Noch 2 Tage – Hildesheim-Schlaffis!”