Alexander Kappe: beinspeicher

Ich musste zunächst googeln, was ein »beinspeicher« ist. Einziges aussagekräftiges Resultat: Der Text von Alexander Kappe.

Seine Hauptfigur: »kleiner mann«. Natürlich denkt man unweigerlich an Hans Falladas »Kleiner Mann was nun?« (Obwohl ich diese Rezension 300 Meter entfernt von Falladas Haus schreibe, habe ich Falladas Roman leider noch nicht gelesen.) Der kleine Mann ist der Prototyp der Verkörperung, ein Körper, der von so gewöhnlichen und außergewöhnlichen Kräften wie Arbeit, Gesellschaft, Schmerz, Krankheit und Tod kontrolliert und verformt wird. »kleiner mann« will »im absoluten körper wohnen«. Dies gelingt ihm nicht. 

Die erste Zeile von Alexander Kappes erstaunlicher Serie »beinspeicher« korrigiert sich selbst, justiert nach. Die Anfangszeile des ersten Gedichts: »kleiner mann kommt, wobei: er knickt ab«. Im zweiten Gedicht: »kleiner mann ist komplize, sprich: ein problem«. Kleiner mann ist »oblatenförmig«, navigiert eine Landschaft von Holunderblüten, sammelt Weisheit von »blitzende[n] Fische[n]«. In diesen Texten bricht die Syntax häufig ab und kehrt sich um, um für den entschlossenen, faktischen, hypotaktischen Erzählstrom Platz zu machen. 

Das ganze Gedicht hindurch umkreisen kleiner mann und seine Kollegen den »beinspeicher«, ein ominöses, grabähnliches Gebäude, das sich zwar fegen und annähern, aber nicht ganz durchdringen lässt. Es übt eine Kraft aus, die der Zona in Andrei Tarkovskys Stalker nicht unähnlich ist. Dieser Beinspeicher ist »ein seltenes, ein gutes Miteinander«, das seine Anhänger dazu bringt, sich unweigerlich zu ändern: »beinspeicher hat schon etwas mit ihm gemacht«.

In gewisser Weise verhält sich »beinspeicher« wie eine Kraft der zurückgehaltenen Verkörperung. Er steuert die Körpererfahrung von kleiner mann selbst: zerrüttet, brüchig komponiert in Grammatik, Zeilenenden, umgekehrten Sätzen, Tyrannen in der Schulzeit, Holunder – kleiner mann ist an seinen Körper und an den beinspeicher gebunden. In der Mitte des Gedichts (von kleiner mann im Gedicht als »ein epilog« bezeichnet) scheint die Anziehungskraft des beinspeichers nachzulassen, und stattdessen werden die Bekannten von kleiner mann von ihm angezogen: »es gibt die ersten, die eher zu kleiner mann / als zu beinspeicher pilgern«. Im letzten Gedicht taucht ein »zweiter beinspeicher« auf – dieser ist jedoch erschüttert, sobald er von kleiner mann Folgendes erfährt: »nur das zerbrechliche ist gut«.

ist spätstunde motor oder protagonist?

vielleicht ist spätstunde aber auch gleichgültig.

PS: Ist die Blogredaktion im folgenden Zitat etwa gemeint?

eine gruppe von selbstgesprächen stellt sich daneben.
sie debattieren bis an das lebensende von kleiner mann.
aber auch bis an das lebensende der selbstgespräche. 

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