Eva Maria Leuenberger: „schlucht“

stell dir vor
die haut fällt von dir ab
wie die rinde
einer anderen zeit

Eva Maria Leuenberger beginnt, ihr Langgedicht schucht zu lesen und ich verliere mich vom ersten Vers an in die düstere und mystische Stimmung, die in dem Gedicht heraufbeschworen wird. Wunderschöne Naturmetaphern säumen den Text und stehen im Kontrast zu dem angesprochenen Du, das eine große Leere um und in sich zu spüren scheint. schlucht wirkt bedrückend und erzählt von einer unglaublichen Einsamkeit, die durch den eindringlichen Vortrag Leuenbergers nur noch verstärkt wird.

/ wie ein reissverschluss zieht
der mund über den kopf
hinweg bis die haut
über den schädel schlüpft

Nur dem rhythmischen Wechsel von sehr kraftvollen und dann wieder zerbrechlich-zarten Bildern verdankt Leuenbergers Gedicht, dass es neben aller Dunkelheit äußerst kunstvolle Momente bereit hält. Strukturiert wird schlucht von dem wiederkehrenden Knistern eines Bildes. Womöglich einer Fernsehröhre? So wie das gesamte Gedicht lässt mich schlussendlich auch dieses Element an einen Film noir denken.

die letzten reste der haut
schuppen ab
die letzte schicht
fällt
das bild knistert / here we are
in a day about dust

Zum Ende nimmt der Text noch einmal Geschwindigkeit auf, so wie auch die Erlebnisse des lyrischen Dus. Leuenberger zeigt, dass sie verschiedene Spielarten des lyrischen Schreibens beherrscht. Die Intertextualität ist ein zentrales Verfahren in ihrem Text. Fast unbemerkt fügen sich die Zitate von Euripides, Maggie Nelson oder Anne Carson in den Grundton der Verse ein. In manchen Momenten erinnert schlucht an Celans Todesfuge. Mir wird ähnlich schwer ums Herz und doch dürfte mich Leuenberger gern noch weiter mit in die finstere Welt des lyrischen Ichs nehmen.

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