Ronya Othmann: Gedichte

Ronya Othmann nimmt uns an viele Orte mit: in den Wald, ins heimische Wohnzimmer, in die Berge und auf Bahnhöfe. Ihre Wortwahl ist gleichermaßen behutsam und souverän, sodass sich vor meinem inneren Auge von Gedicht zu Gedicht eine jeweils neue Welt auftut. Vor allem die Naturbilder in ihren Gedichten sind faszinierend. So sehr, dass ich gern zusammen mit dem lyrischen Ich meine „brüste in taufrische bäche“ tauchen würde.

ist ein wald wie ein gebirge ich kratze
moos von den bäumen, fülle meine
kissen. […]

Wenn Othmann über das eigentlich nervige Salzstreuen im Winter schreibt, dann bekomme ich plötzlich Lust darauf. Ich will sofort meine Fäustlinge überstreifen und gedankenverloren das Salz auf den Gehweg rieseln lassen, während der Januar an meinen Sohlen haftet „wie eine weiße kruste“. Othmanns große Stärke liegt darin, Alltäglichkeiten zu poetisieren, zwischenmenschliche Begegnungen ganz genau zu beobachten und sie aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Das ist manchmal ungewohnt, aber stets erhellend. Othmann beherrscht dabei viele Spielarten des Dichtens. Oftmals spricht sie ein Du an, manchmal verweilt sie beim „wir“, aber auch das klassische lyrische Ich bewegt sich durch ihre Gedichte.

du fragst dich, während du gehst, ob es
das pflaster ist, das deine schuhe nicht
trägt oder deine schuhe nicht das pflaster

Ein übergestelltes Thema kann ich den Gedichten nicht entnehmen. Vielmehr sind sie kleine Miniaturen, die für sich stehen. Dabei ist Othmanns Lyrik eher abstrakt und assoziativ, immer aber melodisch. Das mag auch an ihrem unkonventionellen und kreativen Umgang mit Alliterationen liegen.

ein rückstoß der sich in den gräsern zeigt,
wie ein geräusch, in einer esche grau, eine
scherge auch, einen sucher, schauer,
eine ursache aus. […]

Im vorletzten Vers heißt es dann „ich sehe nicht durch“ und nun ja, ich auch nicht komplett. Aber manchmal kann es eben auch äußerst befriedigend sein, nur die Schönheit der stilistischen Ausarbeitung aufzunehmen, ohne dem Ganzen eine höhere Bedeutung aufzudrücken.

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