Aus der Textwerkstatt von Sophia Klink

Skript für den Wald

Der Rückstoß muss in die Schulter fahren, nicht in den Bauch, sagt Annie. Halt das Gewehr noch ein bisschen mehr seitlich. Es muss aussehen, als könntest du wirklich schießen.
Ich ziele neben das Rebhuhn und schieße. Die Kugel geht in den Boden, aber das Rebhuhn fällt um. Das hat Annie so programmiert.
Wir laufen und sammeln das Huhn auf. Annie muss mir helfen, es in meinem Sack zu verstauen. Annies Rebhühner werden immer schwerer, die Federn sind verzogen, die Haut darunter dünn und durchscheinend, als könnte sie bei der kleinsten Berührung aufplatzen.
Geht nicht anders, sagt Annie. Die Form leidet automatisch, wenn ich die Muskelmasse erhöhe. Aber wer weiß schon, wie ein echtes Rebhuhn aussieht.

Wir tragen die Rebhühner zum Haus und nehmen sie mit dem kleinen und dem großen Messer aus. Innen sind die Hühner weiß. Früher haben alle Tiere geblutet, auch meine, sagt Annie. Bluten, das ist, wie wenn du dir in den Finger schneidest.
Ich habe mir noch nie in den Finger geschnitten und Annie auch nicht.
Annie hält das Feuer in Gang. Ein Rebhuhn reicht genau für uns beide, das zweite räuchern wir und hängen die Teile in Annies Schlafzimmer auf.
Ich bekomme die Flügel, Annie die Beine. Das Fleisch schmeckt nach Sand. Annie sagt, früher hat Fleisch nicht nach Sand geschmeckt. Es dürfte schwer sein, das Fleisch wieder nach Fleisch schmecken zu lassen, nach Pute oder Hühnchen.
Eigentlich sollte Annie nicht von früher reden, als es noch echte Rebhühner gab, Wildschweine und Hirsche und alle Dorfbewohner hungrig waren und Tag und Nacht auf der Jagd.
Wir dürfen nichts übrig lassen für den nächsten Tag, sagt Annie, sonst schöpft jemand Verdacht. Wir müssen so tun, als wären wir hungrig, wenn jemand aus dem Dorf vorbeikommt.

Annie zieht die Vorhänge zu, bevor sie sich an den Computer setzt. Es ist zu gefährlich, am helllichten Tag zu arbeiten. Jemand vom Nachbarhof könnte vorbeikommen und den Computer sehen.
Annie öffnet das Skript für das Wetter, weil es heute schon zweimal geregnet hat. Nachts funktioniert es gut, aber tagsüber hängt das Skript manchmal, dann fängt es an zu regnen und Annie muss ein paar command lines schreiben, damit es wieder aufhört. Ich versuche zu sehen, was sie da tippt, aber sie sagt, das Übliche, das ist nicht spannend für dich.
Manchmal greifen wir heimlich auf die Skripten zu, in denen festgelegt wird, was andere Familien kriegen: Hasen, Eichhörnchen. Mickrige Rationen, sagt Annie. Sicher gehen sie alle hungrig ins Bett. Manchmal verändert Annie auch ein paar Zahlen bei ihnen, aber nur so, dass es niemandem auffällt.

Ich bin dafür zuständig zu lauschen, dass niemand klopft. Wenn es klopft, versteckt Annie den Computer schnell im Schlafzimmer. Aber meistens ist es nur der Kaminkehrer. Den Computer haben wir ursprünglich von ihm, denn eigentlich ist er gar kein Kaminkehrer. Er holt unsere überschüssigen Tiere ab und gibt uns dafür Patronen und Schießpulver.
Früher habe ich mich im Schlafzimmer versteckt, weil er auch wie ein Tier aussieht mit den vielen Haaren im Gesicht, aber inzwischen traue ich mich raus und manchmal schenkt er mir ein Stück Pfeifenputzerdraht.

Später, wenn der Kaminkehrer wieder gegangen ist, spielen wir Mensch-ärgere-dich-nicht. Wir gewinnen immer abwechselnd, erst Annie, dann ich. Es ist besser einen Vorsprung zu haben, sagt Annie.
Wir warten, bis der andere kurz vor dem Häuschen ist, dann zielen wir und schmeißen ihn raus. Unsere Würfel sind schwarz mit weißen Augen. Würfeln ist wie schießen, sagt Annie, der Rückstoß darf nicht im Gehirn ankommen, sonst war er zu stark.
Ich stelle die Holzmännchen zurück in ihre Ausgangsposition. Sie sehen uns ähnlich wie unsere Tiere den echten Tieren ähnlichsehen. Ziele niemals auf ein echtes Tier, sagt Annie.

Woher weiß ich, wie ein echtes Tier aussieht?
Du wirst es erkennen, wenn du eins siehst.
Wir liegen unter der Decke wie die Rebhühner in ihrem Sack. Nachts regnet es immer, weil Annie findet, dass man mit Regen besser schlafen kann. Ich kuschle mich an ihren Bauch und sie erzählt mir Geschichten von Vati. Dein Vati hatte keine Haare im Gesicht. Er war Banker, Aktienverwalter oder Ingenieur. Er hatte auch einen Computer, mit dem man Häuser und Möbel und Regenwolken programmieren konnte.
Auch Rebhühner?
Auch Rebhühner.
Ich wünsche mir, dass er zurückkommt und wir die ganzen Nachmittage über zu dritt Mensch-ärgere-dich-nicht spielen. Aber Annie sagt, wie stellst du dir das vor, wir haben doch nur zwei Würfel.

Annie hat ein neues Skript geöffnet. Es heißt Doc3 und es soll eine Überraschung werden. Annie hat ganz weiße Augen, wenn sie davon redet. Ich kann nicht schlafen, solange sie drüben mit der Tastatur klappert. Irgendwann hört sie auf zu klappern und ich höre die Tür, dann die Stimme vom Kaminkehrer. Annie kommt ins Schlafzimmer. Ich mache fest die Augen zu. Es ist viel zu spät, um wach zu sein. Sie berührt mich nicht, ich spüre nur wie sie ihre Decke nimmt und wieder hinüber zum Kaminkehrer geht.
Der Regen ist laut und er wird immer lauter. Annie soll den Regen leiser machen, sie soll endlich kommen und mir noch eine Geschichte von Vati erzählen. Ich stehe auf und drücke die Klinke so fest ich kann, aber die Tür ist abgeschlossen.

Am nächsten Morgen gehen wir zu dritt durch den Wald. Annie hält die Hand des Kaminkehrers. Darum habe ich doch zwei Hände, sagt sie. Aber ich schüttle ihre andere Hand ab und gehe absichtlich drei Meter neben ihr, obwohl dort das Dornengestrüpp ist. Ich komme langsam voran, Annie schaut immer wieder zu mir zurück. Ich lasse mich noch weiter zurückfallen, aber Annie kommt nicht.
Immerhin habe ich mein Gewehr.
Ich ziele neben die Stämme. Das Gewehr darf nie in den Himmel gerichtet sein, es muss immer ein Kugelfang dahinter sein.
Ich versuche, den Abzug zu spannen, aber er klemmt. Ich ziehe fester. Der Abzug rutscht in die Kerbe. Plötzlich tut meine Hand so weh, dass ich aufschreie. Da ist ein Riss, wo die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger ein Dreieck bildet. Aus dem Riss quillt es rot. Ich ziehe die Hand in den Ärmel und mache eine Faust um den Stoff.

Ich laufe zu Annie und dem Kaminkehrer. Annie kniet auf dem Boden, das Gewehr an der Schulter, aber sie schießt nicht. Der Kaminkehrer steht daneben und macht ein erschrockenes Gesicht. Er legt den Finger an die Lippen. Ich bleibe stehen und warte, aber es passiert nichts. Beide schauen nur gebannt auf eine Stelle zwischen den Bäumen. Dort bewegt sich etwas. Es ist viel größer als ein Rebhuhn.
Irgendwann lässt Annie das Gewehr sinken. Sie kommt zu mir und hebt mich auf den Arm. Ihr Gesicht ist nass. Sie weint und weint den ganzen Weg zurück.

Beim Haus zeige ich ihr meine Hand. Annie wäscht sofort die Wunde aus und verbindet sie mit einem weißen Tuch. Danach spielen wir zusammen Mensch-ärgere-dich-nicht. Der Kaminkehrer darf Annies Würfel mitbenutzen.
Zuerst gewinnen wir immer abwechselnd, Annie, der Kaminkehrer und ich. Aber dann gewinne ich einmal außer der Reihe und gewinne, gewinne, gewinne.

Ich gehe allein ins Bett. Der Regen ist noch stärker geworden. Es klingt, als würde Annie drüben tippen, aber ich weiß, dass sie nicht tippt. Die Decke hat sie wieder mit nach drüben genommen.
Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Durch den Regen ist die Luft weiß und trüb. Am Waldrand kann ich einen dunkleren Schemen ausmachen, es sieht aus wie das große Tier von vorhin.
Ich hole das Gewehr vom Schrank und lege es an die Schulter. Diesmal lässt sich der Abzug ganz leicht spannen. Der Rückstoß muss in die Schulter fahren, nicht in den Bauch. Es muss aussehen, als könnte ich wirklich schießen, wenn mich jemand beobachtet. Ich stelle mir vor, draußen ständen ganz viele, die mich beobachten: ein Ingenieur, ein Bäcker, ein Programmierer. Sie klatschen in ihre roten Hände.
Ich ziele.

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