Aus der Textwerkstatt von Rudi Nuss

Die Zeit superstellarer Prozesse

                  UND DER WAL VON O.

Mit einer Unerbittlichkeit und Langsamkeit fließen Galaxien ineinander, von Kollision kann kaum die Rede sein. Millionen von Jahre, ein Fall der einen durch die andere, der, durch die wechselseitige gravitative Wirkung von Milliarden Sonnen, entschleunigt wird, bis sich die Systeme vollständig vereinigt haben.

Erst Gas, dann Galaxien, dann Galaxiengruppen, Galaxienhaufen, schließlich Galaxiensuperhaufen.

Menschliche Prozesse erscheinen wie Blitze im Anblick dieser Unerbitterlichkeit und Leere, trotz des immensen Aufwands von Energie und Wärme .

Es gibt keinen Gedanken im Kosmos, der den Kosmos erfassen könnte (altgriechisch κόσμος kósmos ‚(Welt-)Ordnung‘, daher eigentlich kein Kosmos, sondern Chaos), der Raum versteht sich selbst nicht. Das Bewusstsein ist sich selbst ein Enigma. Irgendwann, nach der zweiten technischen Singularität, wenn jedes Quantum sich seiner bewusst wird, dann erwacht das Universum in Gänze mit einer unendlichen Rechenleistung, die über sich selbst hinausgeht. Das ist die neue Welt.

Irgendwo dort draußen in aquatischen Untiefen lebt ein Wal, den man den einsamsten Wal der Welt nennt. Seine Rufe sind derartig hoch, dass kein anderer seiner Art ihn zu verstehen vermag. Der durchschnittlichen Frequenz seiner Laute verdankt er seinen weiteren Spitznamen: 52-hz-wal. Man schätzt anhand der Häufigkeit der Rufe, dass er irgendwas zwischen Blau- und Finnwal sei. Da ihn kein Artgenosse erhöhrt, treibt er einsam im Pazifik, nur die Meeresbiologen, die ihn studieren, erhören ihn. So sagt man. Doch was die Meeresbiologen nicht wissen: Der Wal spricht mit einem Planeten, 45 Milliarden Jahre von der Erde entfernt. Der Planet O wird von einer pastellfarbenen Pflanzenzivilisation bevölkert, deren kollektiv-zusammengewurzelter Geist mit dem Wal kommuniziert. O befindet sich in einem Netzwerk anderer Pilz- und Pflanzenkollektive, die einen Superhaufen aus intelligenten Galaxien formen. Der Wal und das Pilzkollektiv vom Planeten O reden im State 31; einem der 811 bewusstseinsräume des intelligenten Superhaufens – es ist eine Sphäre spiegelglatter Einfachheit, Milliarden aufeinander gerichtete Spiegeloberflächen, die nichts reflektieren als das Nichts, ohne Formen oder Form, in dem der Wal auf des Pilzes Sporen schwebt.

Im State 31 kannst du alles sein, was du willst. Der Wal wird in den Spiegelsphären von O zum Reh, Fisch, Planetensystem, wird zum allumfassenden weltenbaum, Gaswolken, Grashalmen, schimmernden Plastiktüten, PET-Flaschen im Regen, Wellen in Chrompfützen auf einem Mond, wird zu kristallinen Ablagerungen, Milliarden Jahren Sedimentschichten…

Mycelien und Ranken wachsen in sein Atemloch, füllen seine Arterien, sowie sein tonnenschweres Herz, komplett auf, verformen und dehnen den Wal.

Wie auch die Oberfläche des Ozeans sein Inneres verbirgt, ist für niemand ersichtlich, dass dieser Wal, dessen Rufe den Meeresbiologen so ein großes Rätsel verbleiben, von fernen Galaxiehaufen durch sein Atemloch gefickt wird.

 

Auszug aus dem Roman „träume auf der obersten pritsche“


[1] Eines einzelnen Menschen, in seiner Verwebtheit mit seinem eigenen Sein erzeugt dieser so viel Liebe und Energie, aufgewendet, um die alltägliche Ereignisgeschwindigkeit als kohärentes Ganzes zu organisierien. Da wirken unglaubliche gravitative Energien auf dich, die alles verlangsamen, das Aufstehen, das Herauskommen aus der Dusche, aus dem warmen Fluss in die kalte Welt, etc.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.