Der Moment der Wahrheit: die Vergabe aller Preise. Verliehen wird auch dieses Jahr wieder der tax-Publikumspreis, sowie drei Hauptpreise. Das sind die Laudationes zu den Preisträger*innen.
Stephanie Lange für die taz-Publikumsjury über Gedichte von Nail Doğan:
Die taz-Jury traf sich dieses Jahr das erste Mal per Zoom, anstatt im Heimathafen Neukölln anwesend zu sein. Wir befanden uns gleichzeitig in Berlin, Karlsruhe sowie Hofheim am Taunus. Gefreut haben wir uns über die Breitheit der Themen. Auffallend war, dass dauerpräsente Thema des Mensch-Natur-Verhältnisses.
Der Text überzeugte die taz-Jury mit seiner mehrsprachigen Lebendigkeit. Seine Themen: Sehnsucht, Grenzenlosigkeit von Sprache, Sprachlosigkeit, kulturelle Befremdung und Andeutungen von Identitäten lassen viel Raum für die eigene Imagination.
Der starke Sog und Sound ist sowohl in der Performance als auch in der Lektüre »in your face«.
Der Preis der taz-Publikumsjury des 28. open mike geht an Nail Doğan.
Nach der Verleihung des Preises aus der taz-Jury betreten Marica Bodrožić und Verena Güntner die Bühne im Heimathafen, um die Gewinner*innen der drei gleich hoch dotierten Hauptpreise zu verkünden: Rebecca Gisler, Josefine Soppa und Nail Doğan.
Marica Bodrožić über Hippobosca von Rebecca Gisler:
Ein erster Satz wie ein Fluss, der durch seine beste Jahreszeit fließt, lang, weit und gebieterisch nimmt er sich Raum und ist Raum und mit ihm: Pferde, Tränen, Augen, Hufe, Klappstühle, ein Onkel, um ihn wird es gehen, eine Tante, Blütenstaub und eine Reiterin. Alles ist geöffnet, im Flug des Bewusstseinsauges. Der zweite Satz verdoppelt sich in der Länge und erweitert die eingeführte Welt in ihrer Tiefe. Während das erzählende Ich läuft, bringt sich seine Geschichte ins Spiel. Die Schritte sind förmlich zu spüren – oder ist es ein Pflug? Und man will sogleich mit der Stimme alles laut mitlesen, mitleben, um dem Atem des Satzes und der Satzzeichen innerlich zu folgen. Eine Einheit begegnet einem hier von Mensch, Tier, Landschaft und Wort. Das zeigt sich bei jeder neuen Zeile immer deutlicher. Es ist eine Einheit, die nichts liebliches hat und den Gesetzen der inneren und äußeren Wildnis dieser Stimme folgt. Hals, Ohren und Augenentzündung, also die Bronchitis otitis, Konjunktivitis verweisen auf eine andere Zeitwahrnehmung, auf Verlangsamung. Gleich einer Schnecke, wie es einmal heißt. Schöne, langgedehnte, traumhaft wirkende Innen- und Mythenzeit. Aber je länger man in die Ferne schaut, heißt es, umso stärker verschmilzt die Horizont- und die Meereslinie. Ein zentraler Satz in diesem Text. Die Verschmelzung von allem mündet in der Einheit der Elemente, Luft und Wasser – das sind auch die großen inneren Kräfte, die diesem Text auf der ästhetischen und erzählerischen Ebene überzeugend zuarbeiten, um – und das ist wichtig – im Erdelement mit dem Körper Sprache zu werden. Ein Text, der sich in sechs Sätzen keinem Widerstand fügt, der nicht nachgibt, sondern diesen im Erzählen sichtbar macht. Wir prämieren diesen Text mit einem der Preise, den Text von Rebecca Gisler Hippobosca.
Verena Güntner über MIRMAR von Josefine Soppa:
„Es ist wie immer, wenn man in etwas eintritt. Man vergisst, wie es vorher war.“ Als ich diesen Satz gelesen habe, habe ich mich erschrocken zurückgeworfen gefühlt, auf meine eigene Situation, in der ich mich befinde, in der wir uns alle gerade befinden. Ich habe mich gefragt, ob ich denn schon vergessen habe, wie es vorher, vor Corona war. Dieser Text hat das in dem Moment gar nicht aufgreifen wollen, aber er hat das in mir ausgelöst. Dazu kam, dass ich mich seit längerem frage, und darüber haben wir auch in der Jury gesprochen, dass das ein Thema ist, das für viele angstbesetzt und furchteinflößend ist: Wie wollen wir eigentlich in der Zukunft arbeiten? Und: Ist Saisonarbeit so etwas wie ein Zukunftsmodell, das die Körper wahllos über den Globus verschiebt, bis sie schließlich ganz verschwinden? So wie es auch einer der Protagonistinnen in diesem wunderbaren Text widerfährt, die eine vorstellbare Kapitänin eines Geisterschiffes wird, eines Kreuzfahrtschiffes. Das war auch tatsächlich wieder eine Stelle, an der ich mich gefragt habe, ob das dann die Alten sind, die auf diesen Inseln sitzen und wie das eigentlich ist, wenn man sie isoliert. Denn davon, die Alten zu isolieren ist ja auch oft die Rede. Der Text hat, obwohl er vorher geschrieben wurde, in mir und in uns viel ausgelöst. Er hat einen dystopischen, einen furchteinflößenden Sog ausgelöst und hat uns alle gleichermaßen fasziniert und gefesselt. Wir prämieren den Text MIRMAR von Josefine Soppa.
Peter Waterhouse über Gedichte von Nail Doğan:
In diesen Gedichten sind nicht so sehr die Bedeutungen im Spiel, steht nicht so sehr etwas auf dem Spiel, was hier endlich im Spiel ist, ist das Spiel. Die Achselhöhle zum Beispiel ist etwas, in dem man mit der Hilfe der anderen Sprache, mit der Hilfe der türkischen Sprache einen Spielraum öffnen kann. Im Türkischen ist nämlich nicht von einer Höhle und Verborgenheit die Rede, sondern von unter alt oder altı und von einem Sessel. koltukaltı heißt also nicht nur Achselhöhle, sondern auch unter dem Sessel. Koltuk, oder unter einem Armsessel, weil kol der Arm ist. So steht also in dem Gedicht Achselhöhle geschrieben und gleich darauf steht unter dem Sofa geschrieben. Damit öffnet das Gedicht eigentlich die Höhle und öffnet einen Spielraum. Aus Achselhöhle wird gleich darauf unter Mehrheiten und unter Möwenflügeln. Orte wo keine Höhlen sind, außerdem spielt zum Beispiel das Wort Achselhöhle mit dem Wort außerdem, also mit einem Außen und Draußen aus der Höhle heraus. Die Weite dieses Draußen erstreckt sich, streckt den Arm und den Armsessel aus, bis zur Höhlenmalerei. Bis zum ersten und letzten Menschen, bis zu allen Menschen also. Onkel Mustafa sagt nämlich ich soll ein Gedicht davon schreiben, „wo Höhlenmalerei vorkommt der erste und der letzte Mensch.“ Wenn aber Höhlenmalerei vorkommt, dann kommt sie hervor, heraus aus der Höhle und der erste Mensch und der letzte Mensch kommen auch hervor und heraus und außerdem: das Deutsche wird hier mit der Hilfe der türkischen Nachbarin herausgebracht und hervorgebracht. Alles kann im Spiel sein, zum Beispiel, wie Emel im Supermarkt ist und im Kopf rechnet, wie sie in einem Regal Tomatenmark sucht, wie sie die Kassiererin anschaut wie sie ihr langes Haar schüttelt und sogar schmeißt. Immer muss in einem der Gedichte Vladimir Yürükonov an Emel denken. Warum? Weil in ihrer Kopfhöhle das Rechnen etwas wunderbares ist, eine Zahlenspielerei, die viel mehr berechnet als die Preise. Wahrscheinlich jene vierzig Minuten, berechnet, die sie draußen gewartet hat, im Auto auf einem freien Parkplatz, die Unendlichkeit dieses Draußen berechnet. Wahrscheinlich berechnet Emel im Kopf Spielräume, Schönheiten. „ich muss aber immer an Emel denken wie eine komplizierte Operation wie ein gutes Gedicht wie Zebras gegen Löwen.“ Was können Zebras gegen Löwen tun? Das Schöne ist, dass das Gedicht keine Antwort auf die Frage gibt, aber spielt. Zum Beispiel gegen die Löwen spielt. Für dieses Ungladiatorische und für die türkischen Nachbarschaftsspiele erhält Nail Doğan einen der drei Preise des open mike 2020, herzlichen Glückwunsch!