Die Vorjury des 31. open mike | Teil II: Miryam Schellbach, Sebastian Guggolz, Laura Weber

Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor:innen, Literaturagent:innen sowie Verleger:innen dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an sie weitergereicht. Die Vorjury liest und wählt ihre Kandidat:innen aus.

Die ersten vier der sieben Vorjuror:innen des 31. open mike haben wir euch hier bereits vorgestellt, in diesem Beitrag folgen die weiteren drei.


Miryam Schellbach

Miryam Schellbach
© Holger Priedemuth

Worauf freuen Sie sich als Teil der Vorjury zum 31. open mike mit Blick auf das Wettbewerbswochenende am meisten?

Eindrucksvolle Texte und ihre stimmlichen Interpretationen. Darauf, dass Text und Vortrag etwas Eigenes zusammen ergeben. Ich freue mich auf das Knistern, die Momente, wenn die Stimmen wegbrechen, der Applaus einsetzt, wenn sorgsam geschmiedete Formulierungen auf einer Bühne laufen lernen. 

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Wenn man jeden Tag Manuskripte liest, überrascht so viel nicht mehr. Vielleicht: die große Varianz von extrem klassischen bis hin zu experimentellen poetologischen Ansätzen.

Welche Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl der Texte besonders wichtig?

Immer: dass Form und Inhalt korrespondieren, dass eine formale Entscheidung ihr Echo im Thema findet. Sonst ist es keine Literatur. Oder sehr schlechte.

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet? Können Sie – vielleicht auch nach der Lektüre der open mike-Texte – Tendenzen erkennen?

Viele der eingereichten Texte thematisieren ihre Verortung in der Welt, was sie in die literarischen Gefilde von Memoir, Autofiktion usf. führt. Die Lust der Autor*innen auf diese Genregrenzbestandsaufnahme ist ungebrochen. Aber: Tendenzen und Konjunkturen sind Kategorien für das feuilletonistische Auge, und ganz sicher auch für die, die vom Markt her denken. Autor*innen denken darüber bestenfalls wenig bis gar nicht nach.

Was möchten Sie den jungen Autor:innen schon jetzt mit auf ihren Weg geben?

Siehe meine vorherige Antwort.


Miryam Schellbach, geboren 1988, studierte Germanistik und Französistik in Leipzig und Lyon. Sie arbeitet als Lektorin, Literaturkritikerin, Jurorin und Moderatorin und war Redakteurin der Literaturzeitschrift Edit. 2022 war sie Mitglied der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse. Im Oktober 2022 hat sie die Programmleitung des Claassen-Verlags innerhalb der Ullstein Buchverlage übernommen. 

Ausgewählte Teilnehmer:innen
Anja Gmeinwieser
Lisa James
Beatrix Rinke

Sebastian Guggolz

Sebastian Guggolz
© Nils Stelte

Worauf freuen Sie sich als Teil der Vorjury zum 31. open mike mit Blick auf das Wettbewerbswochenende am meisten?

Ich bin sehr gespannt darauf, wer sich hinter den von mir ausgesuchten Texten verbirgt. Und ob die Texte in der Lesung eine ähnliche Wirkung entfalten können wie in meiner stillen Erstlektüre. Außerdem freue ich mich auf die Begegnungen und Entdeckungen während des Wettbewerbs.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Die erste Befürchtung, unter den Einreichungen gar nichts zu finden, was mir gefällt, verwandelte sich bei der Lektüre in das Problem, wie ich mich unter etlichen interessanten Ansätzen auf zwei oder drei Texte festlegen soll. Aber die besten Texte haben sich dann einfach sehr schnell aufgedrängt und auch eindeutig durchgesetzt.

Welche Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl der Texte besonders wichtig?

Dass mich der Text überrascht. Sprachlich, inhaltlich, erzählerisch. Dass ich nicht nach dem zweiten Satz schon weiß: Da kommt nichts mehr, das wars dann also. Und dass es ein Bewusstsein über die Möglichkeiten der sprachlichen Gestaltung gibt.

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet? Können Sie – vielleicht auch nach der Lektüre der open mike-Texte – Tendenzen erkennen?

Die Ich-Perspektive ist sehr präsent in vielen Texten und fängt schon an, mich zu langweilen, wenn sie nicht originell eingesetzt wird. Wenn sie mit banalen alltäglichen Beobachtungen und Überlegungen vor sich hinplätschert, schafft das bei mir sofortigen Überdruss. Aber, positiv ist, dass die Tiere immer noch da sind. Und es ist einfach so: Ein gut gewähltes Tier, ob real oder als Metapher, verbessert jeden Text.

Was möchten Sie den jungen Autor:innen schon jetzt mit auf ihren Weg geben?

Nicht einfach drauflos schreiben, sondern vorher überlegen, was man wirklich sagen will, und dann die beste Form dafür finden. Überhaupt eine Form finden! Sonst verläuft sich der Text und versandet. In einer klug gewählten Form dagegen kann ein Text anwachsen und übersprudeln und eine Energie entwickeln, die plötzlich weit über sich selbst hinausweist.


Sebastian Guggolz, geboren 1982 am Bodensee, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Volkskunde in Hamburg. Nach einigen Jahren als Lektor bei Matthes & Seitz Berlin gründete er 2014 den Guggolz Verlag, in dem er Neu- und Wiederentdeckungen vergessener Klassiker aus Nord- und Osteuropa in neuer Übersetzung herausgibt. Seit 2022 arbeitet er zudem im Lektorat des S. Fischer Verlags. 

Ausgewählte Teilnehmer:innen
Eva Burmeister
Florian Kranz
Christina Poggel

Laura Weber

Laura Weber
© Christian Werner

Worauf freuen Sie sich als Teil der Vorjury zum 31. open mike mit Blick auf das Wettbewerbswochenende am meisten?

Darauf, Autor*innen und ihre Texte in Aktion zu sehen. Die meisten Vorlesenden sind wahrscheinlich noch nicht oft in den Genuss gekommen, die eigenen Worte auf großer Bühne vorzutragen. Hoffentlich lebt das Publikum ordentlich mit!

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Der auffällige Fokus auf generationenübergreifende Beziehungen, und zwar nicht auf die üblichen Eltern-Kind-Dynamiken: Es standen in meinen Texten Großeltern, Senioren in Residenzen oder greise Nachbarinnen im Zentrum des Geschehens. Der neugierige, zärtliche und auch ehrfürchtige Blick auf unsere Ältesten hat mich überrascht und dann überraschend berührt. Außerdem haben sich viele Autor*innen in ihrem Schreiben bürokratischen Abläufen gewidmet. Die Poetik der Bürokratie ist zwar nicht neu, sie stellt im Kontext von postmigrantischer Literatur aber eine besonders interessante Form für Kritik, Protest und Empathie dar.

Welche Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl der Texte besonders wichtig?

Die Texte sind so kurz, da muss von Anfang an der Funke überspringen. Und dann durften wir ja keinen einzigen Strich lektorieren! Erzählstimme, Stil, narrativer Bogen, inhaltlicher Kern – wem ist es gelungen, all das stimmig zu vereinen? Ich habe nach erzählerischer Souveränität gesucht, nach Texten, die mit einem Knall beginnen und mich mitreißen. Bei mir funktioniert das durch guten Rhythmus, Bildgewalt, stilistische Konsequenz, Momente der Überraschung und Furchtlosigkeit: Lieber einmal übers Ziel hinausgeschossen, als gar nicht erst abgehoben.

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet? Können Sie – vielleicht auch nach der Lektüre der open mike-Texte – Tendenzen erkennen?

Wenn ich statt nach hinten, nach vorne gucken darf, dann würde ich lieber einen Wunsch äußern: dass der antipatriarchale, antikapitalistische Diskurs auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seine satirische, bissige und witzige Seite finden möge. Ich glaube, die Welt ist ready.

Was möchten Sie den jungen Autor:innen schon jetzt mit auf ihren Weg geben?

Willkommen im Literaturbetrieb. Hier kann es manchmal etwas eng und stressig werden – lasst euch davon nicht zu sehr beeindrucken. Nehmt euch Zeit bei den anfänglichen Entscheidungen, welche Agentur, welcher Verlag. Der Rat von anderen Autor*innen ist Gold wert! Sprecht mit Menschen aus der Branche über die verschiedenen Verlage, mit Schreibenden über ihre Agent*innen, mit interessierten Lektor*innen über ihre Vision für euren Text. Und vertraut eurem Instinkt, denn am Ende habt ihr die klarste Vorstellung von eurem Projekt.


Laura Weber ist Lektorin im Hanser Berlin Verlag. Zuvor arbeitete sie mehrere Jahre als Literaturscout in New York. Sie ist Mitherausgeberin der Anthologie Glückwunsch (2023). 

Ausgewählte Teilnehmer:innen
Maria Conrad
Susanne Romanowski
Mario Schemmerl

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