Die Lektoren des 25. open mike 2017. Heute Sabine Baumann, Christian Döring & Florian Kessler

Lektor*innen, die: zwei Frauen & vier Männer, deren Job es ist Bücher zu »machen«. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verlagen und arbeiten seit Jahren mit Autor*innen an deren Manuskripten, begleiten sie auf dem Weg zum fertigen Buch, sind Ratgeber*innen und manchmal auch Freund*innen, immer aber »erster Leser«,
und das vor allem kritisch im besten Sinne des Wortes. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels stellt dazu fest: »Die Aufgaben des Lektors sind vielfältig: er ist kritischer erster Leser und Begleiter bei der Entstehung eines Werks. Der Lektor ist Korrektiv im Schöpfungsprozess, er vertritt die Sache des Autors gegenüber der Öffentlichkeit und zugleich die Interessen des Lesers.«

Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor*innen aus renommierten Verlagen dazu ein, die Vorjury zu sein: nach Einsendeschluss im Sommer, werden die bis zu 700 anonymisierten Manuskripte an die Lektoren weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidaten aus.

Die ersten zwei dieser Lektoren / Lektorinnen stellen wir Euch hier kurz vor.

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Sabine Baumann

Welche Kriterien haben Sie an die open mike – Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?
Beim Open Mike bin ich zum ersten Mal in der Vorjury dabei und das durchaus mit der Hoffnung, Entdeckungen zu machen. An literarische Texte gehe ich grundsätzlich unvoreingenommen heran und lasse auf mich wirken, was sie selber mitbringen, wie sie mich als Leser ansprechen und berühren, welche Welt sie mir eröffnen. Als ich den Stapel mit rund hundert Wettbewerbsbeiträgen bekam, war ich sehr gespannt auf die Anliegen, die Sprache und den Blick der jungen Generation. Hier wie auch bei der Sichtung für das Programm der Gegenwartsliteratur bei Schöffling & Co. geht es mir darum, wie überzeugend all diese Faktoren zusammenkommen, ob das Erzählte Interesse weckt und die richtige Erzählhaltung und Dramaturgie findet, die den Leser packt und auch nach der Lektüre noch zu denken gibt. Unsere Autoren haben alle eine starke eigene Stimme, einen unverwechselbaren Ton, der sie besonders macht, der ihre Fragen an das Leben prägt und das Schreiben beeinflusst.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Auffällig fand ich, wie viele der Geschichten sich monologartig um Einsamkeit und Isolation drehen, wie häufig in Form einer Suada die Enge des Lebens beklagt wird und wie oft Psychogramme von Menschen entworfen wurden, die nur noch durch den Lieferservice Kontakt zur Außenwelt haben. Mehrfach wurden Todesszenarien beschrieben, stellten Erzähler sich ihren eigenen Tod vor, das hat mich angesichts des jungen Alters der Autoren erstaunt. Dagegen kamen im Vergleich kaum Emanzipationsgeschichten vor, ging es zwar altersgemäß öfter um Selbstfindung und gelegentlich um familiäre Auseinandersetzungen, aber das alles nicht gerade in Aufbruchsstimmung. Auch wenn es gelegentlich Gattungsausreißer gab, hielten sich die meisten Texte als klassische Geschichten mit formalen Experimenten zurück und gab es auch wenig Auseinandersetzungen mit politischen oder historischen Themen oder, was ich schade fand, mit literarischen Vorbildern.

Welche Entwicklungen & Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Die vielfältigen Einflüsse anderer Kulturen oder auch die Relativierung, das produktive Miteinander unterschiedlicher Traditionen machen sich verstärkt, aber nicht allein über die Herkunft und Migrantenbiografien vieler Autoren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bemerkbar, und ich glaube, dass die Literatur allgemein ihren nationalen Horizont erweitert und Eingrenzungen aufbricht. Das tut in jedem Fall gut, egal ob sich Romane und Erzählungen mit heutigen Themen oder historischer Aufarbeitung beschäftigen.

Was wünschen Sie sich für die (deutschsprachige) Literatur der kommenden Jahre?
Ich wünsche mir, dass sie weiterhin viel Beachtung findet und dass es weniger Auseinandersetzungen darüber gibt, wie vermeintlich privilegiert oder durch Schreibschulen zugerichtet die heutige Generation von Schriftstellern angeblich sei. Die Einsendungen zum Open Mike haben auch da, wo man einen Schreibschul-Hintergrund erahnen konnte, gezeigt, dass das weder zu Belanglosigkeit noch zu einer Abtötung der Fantasie führt, im Gegenteil.

Sabine Baumann

Sabine Baumann (*1966) arbeitet als Lektorin im Verlag Schöffling & Co., seit 2016 in leitender Funktion. Sie betreut internationale und deutsche Autoren der Gegenwart. Zudem arbeitet sie als ehrenamtliche Redakteurin der Zeitschrift Übersetzen. Sabine Baumann studierte Amerikanistik und Slawistik und arbeitete als Lektorin unter anderem bei Farrar, Straus & Giroux in New York sowie S. Fischer und Klostermann in Frankfurt.

Ausgewählte Kandidat*innen
Magdalena Kotzurek, Matthias Emanuel Tonon & Lukas Diestel

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Christian Döring

Welche Kriterien haben Sie an die open mike – Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?
Es kann weder in der Lyrik noch in der Prosa fixe Kriterien geben, an denen sich Qualität „objektiv“ bemisst – es ist die alte Weisheit: jeder Text bringt seine Maßstäbe mit, trägt sie in sich. Will heißen: was will ein Gedicht? Welche Form ist gewählt? Dann lässt sich entscheiden, ob ein sprachliches Gebilde hinter den eigenen Möglichkeiten zurückbleibt oder sie erfüllt, wie an einem Text noch gearbeitet werden könnte. Und eine solche Haltung gilt auch für ein Verlagsprogramm – aber hier müssen dann immer noch andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die sich aus der Entscheidung für eine Veröffentlichung ergeben.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Überraschen kann mich wenig – auch nicht die Tatsache, dass Schreiben, vor allem von Gedichten, offenkundig Antrieben folgt, die wenig mit Kunstansprüchen zu tun haben.

Welche Entwicklungen & Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Ich spreche nur von Gedichten. Wann immer wir meinen, eine Tendenz ausgemacht zu haben: ist sie schon wieder verschwunden; sei es, auf der Seite der Themen, eine Hinwendung zu Natur oder zu Großstadtphänomenen, zur Antike oder geschichtlichen Zusammenhängen; sei es im Blick auf die Gestalt, zum Langgedicht oder zu Reimformen

Was wünschen Sie sich für die (deutschsprachige) Literatur der kommenden Jahre?
Warum sollen wir uns etwas von Gedichten wünschen? Nichts ist zu steuern, zu beeinflussen, die Gedichte kommen auf uns zu; wir sind es, die für sie offen sein sollten, mit angespannten Sinnen.

Christian Döring

Christian Döring (*1954) ist seit 2011 Verlagsleiter und Herausgeber der Anderen Bibliothek. Christian Döring studierte Philosophie und arbeitete u.a. zehn Jahre als Lektor für deutschsprachige Literatur im Suhrkamp Verlag und weitere zehn Jahre als Programmleiter für Literatur im DuMont Verlag.

Ausgewählte Kandidat*innen
Eva Maria Leuenberger, Lauritz Müller, Ronya Othmann, Tobias Pagel und Laura Schiele

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Florian Kessler

Welche Kriterien haben Sie an die open mike – Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?
Ich suche einfach nach Literatur, die mich überrascht und einnimmt und der ich Aufmerksamkeit wünsche. Aber in Verlagen denkt man natürlich ab und zu auch programmplanerisch und kann nicht nur dem eigenen Herzen folgen, da war der open mike eine tolle Unterbrechung.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Ich fand manche Einsendungen beeindruckend unfertig und schludrig, irgendwie war das schön.
Welche Entwicklungen & Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Sie wird besorgter, kritischer, schärfer, wütender und engagierter – und auch die Teile von ihr, bei denen das gar nicht stimmt, werden in diesen Jahren plötzlich stärker nach diesen Kriterien wahrgenommen.

Was wünschen Sie sich für die (deutschsprachige) Literatur der kommenden Jahre?
Große Öffentlichkeit, große Kritik, große Begeisterung.
Florian Kessler
Florian Kessler (*1981) ist Lektor für deutschsprachige Literatur im Carl Hanser Verlag in München und arbeitet außerdem als Journalist. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim.

Ausgewählte Kandidat*innen
Armin Wühle, Ann Kathrin Ast, Rainer Holl