Unzählige Menschen brauchen zum erfolgreichen Start in den Tag neben Kaffee vor allem eins: eine Dusche. Schnell im heißen Wasserstrahl dem Schlaf entrinnen, ihn von sich abspülen. Schnell. Der Vater des Erzählers in Alexandra Stahls Text Mein Vater badet morgens ist nicht schnell. Wer morgens badet, nimmt sich Zeit. Oder braucht sie.
Der Sohne erzählt vom Vater, dessen langsamem, genügsamen Gemüt, aber auch dessen schneller Überforderung, der Traurigkeit, die ihn oft überkommt. Seiner früheren Angewohnheit, die Produkte seines Schreibwarenladens pedantisch zu ordnen. Die Bleistifte am Wochenende zu spitzen. Aber er erzählt auch – und noch viel mehr – von Carola und das Dorf, in dem sie leben.
Carola hasste das Dorf, das Dorf hasste zurück.
In der Grundschule schmierte sie Ketchup auf die Kirchbänke, und der Pfarrer zerriss die Empfehlung fürs Gymnasium. Mit 14 fuhr sie allein in die Stadt und blieb eine Woche. Sie erzählte keinem, wo sie war, ihre Eltern sperrten sie ein, auch eine Woche.
Schnell wird klar, dass Carola die biologische Mutter des Erzählers ist, dass die Beziehung seines Vaters zu ihr eine große Liebe war, die katastrophal in die Brüche ging. Vor allem, weil das Dorf in seiner steifen Spießigkeit Carola zermürbte. Immer mehr spitzt sich der Text zu. Zunächst wird klar, dass Carola sich umgebracht hat. Kurz darauf folgt der zweite Schlag: Carola war nicht einfach nur die leibliche Mutter des Erzählers, sondern auch die Schwester der jetzigen.
Alexandra Stahl adaptiert in ihrem Erzählstil das Gemächliche, die Langsamkeit, die das Baden mit sich bringt. In aller Ruhe schreitet der Text lakonisch voran, unterstützt auch vom pointierten, aber stets ruhigen Vortrag der Autorin. Gleichzeitig spitzt er sich inhaltlich weiter zu. So schafft es Alexandra Stahl, unaufgeregt Spannung zu erzeugen, dem Text einen Bogen zu geben, der trägt. Und der es auch schafft, über die schlichte Erinnerung an die verstorbene leibliche Mutter und den seit dem so langsamen, traurigen Vater hinauszuweisen.