Alexandra-Maria Pipos: Die Ersten von uns

© Natalia Reich

Mit der naiven Klugheit eines Kindes bringt uns Alexandra-Maria Pipos in Die Ersten von uns das Ankommen und Aufwachsen in einem fremden Land näher. So konsequent wie wirkungsvoll: eine berührende Geschichte über Migration.

Mütter sind kompliziert. Sie verkörpern viele Dinge für uns: Geborgenheit, Heimat, Nähe und Sicherheit (im besten Falle). In der Kurzgeschichte von Alexandra-Maria Pipos hat die kindliche Ich-Erzählerin im Grundschulalter gleich zwei Mütter: Eine Mutter von früher, die sie kaum auf alten Fotos erkennt, und eine »durchsichtige« Mutter, die im neuen Land »durch die Straßen der 90er huschte«. Die Diskrepanz zwischen beiden Müttern, die zwei Seiten einer Person widerspiegeln, macht die Spannung des Textes aus, die sich nach und nach immer mehr entfaltet. Pipos verdeutlicht sehr eindrücklich und mit wunderschöner Beobachtungsgabe diesen Zustand und das Bedürfnis der Tochter, diese beiden Seiten ihrer Mutter in Einklang zu bringen.

Ich hatte nicht nur eine Mutter, sondern gleich zwei. Die erste Mutter war fast durchsichtig, mit ihr verbrachte ich die meiste Zeit meiner Kindheit.

Der naive Ton der Ich-Erzählerin trägt uns weit hinein in die Lebensrealität dieser ersten Mutter und Tochter. Einkauf im Supermarkt, Besuch bei der Ausländerbehörde, das Korrigieren der deutschen Sprache der Mutter durch ihre Tochter, weil diese die Sprache aufsaugt wie ein Schwamm. Dabei ist es eine große Kunst, die Glaubwürdigkeit dieser Perspektive voll kindlicher Weisheit aufrecht zu erhalten. Pipos gelingt es.

Meine erste Mutter wollte wissen, was die Worte bedeuteten und wir lernten sie gemeinsam. Aber ich verstand schneller, ich sog mich voll mit Deutschland, während sie ihre Heimat noch auswringen musste, und fing an, sie zu korrigieren.

Besonders deutlich unterscheiden sich die beiden Mütter, wenn Mutter und Tochter in die alte Heimat reisen. Während der langen Fahrt im Bus taucht langsam die zweite Mutter auf: Voller Selbstbewusstsein und Bestimmtheit fügt sich mit der Muttersprache auch die Persönlichkeit wieder in ihre alte Gestalt. Wenn sie dann zurückfahren, wird die zweite Mutter immer blasser, bis sie verschwindet. Ab der deutschen Grenze ist es wieder die erste Mutter, die neben der Ich-Erzählerin sitzt.

Schnell fanden wir in unser deutsches Leben zurück, doch es zwickte nun und saß nicht mehr richtig. Ich liebte meine erste Mutter, vermisste aber meine zweite, ihr Lachen und Schillern.

Interessant ist die Wahl der ersten und zweiten Mutter: Die erste Mutter ist die, die im neuen Leben ankommt, die zweite dagegen ist eine Fremde aus einem anderen Land. Ein starkes, nahbares Bild für eine Zerrissenheit von Identität, die die Realität Migration und Bikulturalität mit sich bringt. Aber es ist auch ein Text über die Verschiebung des Verantwortungsbereichs in einer Mutter-Tochter-Beziehung. Die erste Mutter ist in Deutschland auf die Hilfe des Kindes angewiesen, das sich viel schneller in neuen Umgebung zurechtfindet. Stärke und Selbstbewusstsein ist der zweiten Mutter vorbehalten. Doch mit der Zeit finden beide Mütter zueinander und werden eins.

Denn als sie sich in zwei teilte, teilte auch ich mich, im Schatten meiner zwei Mütter lauerten auch zwei von mir.

Am Ende wird der Blick auf die Ich-Erzählerin selbst gerichtet: Auch sie hat zwei Seiten in sich, blickt sie doch mit großen, staunenden Augen auf ihre zwei Mütter, die sich mit der Sprache ändern. Darin zeigt sich auch eine Begründung für die Wahl, wer die erste und wer die zweite Mutter ist. Das Ursprungsland ist für die Tochter bereits eine Welt geworden, die sich ihr immer mehr verschließt. Die gelungene Kurzgeschichte von Pipos endet mit einer Frage zwischen den Zeilen: Was ist aus den Zweiten von ihnen geworden?

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