Ein Lektor und drei Fragen: Reto Ziegler

Mit welchen Erwartungen sind Sie an die open mike-Texte herangegangen?
Eigentlich gehe ich ohne bestimmte Erwartung an einen Text heran, oder besser gesagt, mit allen und keinen. Jeder Text beginnt bei Null mit einem ersten Wort, einem Satz, aus dem heraus sich beim Weiterlesen eine ganze Welt oder aber auch nichts entwickeln kann. Dies gilt für ein Gedicht, ein empfohlenes Buch, ein eingesandtes Manuskript genauso wie für die open-mike-Texte. Sie ist eher eine Art erwartungslose Neugierde, die offen ist gegenüber dem, was nun gleich geschehen wird, und weniger eine konkrete Erwartung.

Welche Kriterien haben Sie an die Texte angelegt – waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag anlegen?
Literarische Texte sind immer auch eine intensive Auseinandersetzung mit Sprache und Welt (wobei Sprache immer auch Teil der Welt und die Welt Teil der Sprache ist). Die Intensität dieses Sich-Durchdringens von Sprache und Welt im literarischen Text scheint mir auch ein Kriterium für die Qualität eines Textes zu sein. Oder konkreter und auf die eigene Leseerfahrung bezogen, stellen sich Fragen wie: Entwickelt der Text durch die gewählten sprachlichen Mittel und ästhetischen Formen eine eigenständige Sprache und eine eigene Sicht auf die Welt? Und verlockt oder fordert mich die durch den Text gemachte Erfahrung zur Auseinandersetzung mit meiner eigenen Sprache und Sicht der Welt heraus?

Bezüglich dieser Fragen gibt es für mich keinen Unterschied zwischen der Auswahl eines Textes für den open mike und jener für den Verlag. Ein großer Unterschied liegt aber in der grundsätzlich anderen Wahlsituation. Beim open mike sind aus den Einreichungen bis zu sieben auszuwählen. Im Verlag gibt es keine solchen Rahmenbedingungen, dafür ist hier entscheidend, ob ein Text, abgesehen von seinen sprachlichen Qualitäten, in mein Verlagsprogramm passt oder nicht. Dies wiederum war kein Auswahlkriterium für die Gedichte beim open mike.

Letztlich waren es fünf Einreichungen, die mir die überzeugendsten schienen. Ihnen folgte eine Gruppe von etwa 10-12 Einreichungen, die nebst interessanten poetischen Ansätzen und teils gelungenen Passagen auch ein paar deutliche Schwächen zeigten. Zwei Teilnehmer aus dieser recht homogenen Gruppe auszuwählen, schien mir nicht möglich, ohne den Nichtgewählten dieser Gruppe Unrecht zu tun. Keine einfache Entscheidung, da ich gerne alle sieben Plätze besetzt hätte.

Was war bei der Lektüre der Manuskripte die größte Überraschung für Sie?
Eine literarische Sprache eignet man sich bekanntlich nicht nur durchs Schreiben an, sondern auch durchs Lesen – erst durch die Auseinandersetzung mit dem Schreiben der anderen kann eine eigene Sprache entwickelt werden. Bei einem erstaunlich großen Teil der Einsendungen fehlt offensichtlich diese Auseinandersetzung mit der Gegenwart und der Tradition, insbesondere mit der Literatur des 20. und des 21. Jahrhunderts. Umso mehr freut es einen, wenn man dann Texte entdeckt, die das Wagnis eines ästhetischen Abenteuers von Sprache und Welt eingehen und mich als Leser in eine produktive Auseinandersetzung verwickeln.

Zwei Überraschungen, die miteinander zusammenhängen und, aufs Ganze gesehen, wohl nicht wirklich überraschend sind, in der Differenz aber mich doch immer wieder erneut staunen machen.

 

Reto Ziegler, geboren 1966, studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Bern und Wien. Von 2000 bis 2006 war er Lektor und Mitherausgeber der Edition Korrespondenzen in Wien, die er seit 2007 als Verleger leitet.
Für den 23. open mike hat Reto Ziegler ausgewählt: Tobias LewkowiczArnold MaxwillLilli SachseAndra SchwarzEckhardt G. Waldstein

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